Auf einem Stapel aus Holzpaletten steht der Thron des König Lear. Zu seiner Linken hängt die politische Karte Großbritanniens, das er an seine Töchter Regan, Goneril und Cordelia abzutreten beabsichtigt, sofern diese ihm ihre unbedingte Liebe bezeugen. Über dem Haupt des herrschsüchtigen und eitlen Monarchen hängt ein schwerer Lüster. Thron und Leuchter sind in blutverschmierte Jute gehüllt. Die Bühne ist eingetaucht in gedämpftes Licht.
In diese von Anbeginn atmosphärisch dichte Kulisse, von Anouk Schiltz und Sebastian Koch konzipiert, führt Regisseur Germain Wagner sein Ensemble: Pol Greisch (King Lear), Fernand Fox (Narr), Pascal Noé Adam (Goneril), Jeanne Werner (Regan) und Eugénie Anselin (Cordelia). Das Konzept der szenischen Lesung, eine Mischung aus Rezita-tion und dramatischer Darstellung, ist den Freunden des Kasematten-theaters nicht fremd. Das Haus hat sich zuletzt wiederholt in dieser Disziplin geübt, etwa mit Ein anarchistischer Bankier im vergangenen Jahr.
Auffällig ist an Wagners deutschsprachiger Bearbeitung von Shakespeares Tragödie ein dem ersten Anschein nach rein technisches Novum: Die ältere Generation liest aus einem antiquarisch anmutenden Folio, die feindseligen Schwestern hingegen blicken auf ihren iPad, die wahrhaftige Cordelia gleitet mit dem Zeigefinger über das Touchpad ihres iPhone. So sorgt dieses Detail nicht nur für eine stellenweise dämonische Beleuchtung der missgünstigen Schwestern, auch die generationenspezifische und ethische Unterscheidung wird mit leiser Ironie untermalt. Ob man sich dabei gerade auf den Neologismus iBad in Bezug auf die böswilligen Töchter einlassen sollte, sei dahingestellt.
Das im weiteren Verlauf der dramatischen Handlung verschobene Machtgefüge vom willkürlichen, blinden König Lear zur Demontage desselben durch die Töchter Regan und Goneril wird bereits durch die Positionierung der Darsteller auf der Bühne illustriert: Pol Greisch beginnt auf dem höchsten Punkt der Kulisse, mit gekröntem Haupt und drohendem Zeigefinger, Insignien der Macht, um zur Mitte des Dramas auf Augenhöhe mit den Zuschauern und unter den nunmehr mächtigen Töchtern, ja selbst unter seinem eigenen Narren, an seiner Entscheidung zu zweifeln, ausgerechnet die treueste Tochter verbannt zu haben. Am mitreißenden Schluss, der Katharsis im Angesicht seiner verstorbenen Cordelia, findet King Lear sein seelisches Ende in langen Unterhosen, gezeichnet von geistiger Umnachtung und Verzweiflung am eigenen Tun, am eigenen Irren. Greisch verkörpert Lear in diesen Minuten genial.
Hervorgehoben sei jedoch zugleich, dass das Zusammenspiel von Greisch und Fox in den Dialogen zwischen souveränem Narren und dessen senilem Herrn der Produktion ihre besondere Würze gibt. Fox’ clownesk anmutendes, zugleich an die Kluft eines alten Märchenerzählers erinnerndes Kostüm schließt mitsamt den generell sehr einfach gehaltenen technischen Mitteln an die Tradition mittelalterlicher Wanderbühnen an. Shakespeares unverwechselbare sprachliche Ironie kommt zwischen beiden Darstel-lern auf eine sehr belustigende Weise zum Tragen, wenn etwa der Narr die Lage messerscharf inspiziert: „Du hätt’st nicht alt werden sollen, bevor du klug geworden bist.“ Unterhaltung und Intelligenz – Shakespeare eben.
Germain Wagners szenische Lesung zu King Lear entpuppt sich als kleine Perle der engagierten, in ihren Mitteln bescheidenen Theaterkunst. Wenn man auch einige rhetorische Patzer – trotz Vorlage – verbuchen muss und sich Lear anfangs noch etwas jähzorniger hätte wünschen können, ist diese Premiere am vergangenen Donnerstag doch ein wahrer Glücksgriff gewesen.