Die Titel beider Produktionen eines doppelten Theaterabends hanebüchen zu verschmelzen mag nicht von journalistischer Raffinesse zeugen. Zum Premierenabend von Weird scenes inside the gold mine und The 27 Club: Deconstructing Janis am vergangenen Samstag im Kapuzinertheater und im Nationaltheater (TNL) passt diese stilistische Idee jedoch hervorragend. Beide Häuser luden einmal am frühen, einmal am späten Abend zu dramatischen Produktionen ein, mit einem jeweils im Dunstkreis des Klub 27 angesiedelten Inhalt. Klub 27? Wer zu früh oder zu spät geboren wurde, um die musikalische Schreckensmeldung vom Selbstmord des Nirvana-Bandleaders Kurt Cobain im Jahre 1994 live und mit feuchten Augen auf MTV verfolgen zu können/wollen, weiß mit diesem Begriff nichts anzufangen. Schließlich stammt er von Cobains Mutter. Allenfalls die ältere Generation, die in ihrer Jugend in Blumenkleidern und Rasta-Locken streckenweise politisch, vor allem aber partymäßig unterwegs war, mag die anderen 27-jährig verstorbenen Rocklegenden kennen: Brian Jones, Janis Joplin, Jim Morrison.
Frei nach Texten von Antonin Artaud, Henri Michaux und – eben – Jim Morrison entführen erst Carole Lorang und Mani Muller das Publikum mit Weird scenes inside the gold mine ins Wohnzimmer einer verstörten Familie. Mutti strickt, strickt unaufhörlich, sitzt fest und unüberwindbar in ihrem Stuhl, füllig, mit befremdlich hochgesteckter Frisur. Im hinteren Bereich der Kulisse sitzt ihr Sohn Momo, eine schlaksige, leicht unbeholfene Erscheinung, trägt einen überlangen roten Schal, murmelt vor sich hin, murmelt hinter seinem Buch hervor, er, der Literat. Papa, ehemals Orchesterleiter, hockt auf seinem Klavierschemel, haut in die Tasten, bringt einmal unbeholfene, einmal romantisch finstere Tonsätze hervor, steckt in einem roten Wollpollunder, der jedes Kind an Weihnachten zur Weißglut brächte.
Auch der Lampenschirm besteht aus jener roten Wolle, die aus Muttis Stricknadeln schleicht: Sie führt die Nadeln mit harter Hand, flicht ihr Gewebe der Macht über ihren bübischen, unterwürfigen Sohn, der mit Aprikosenkeksen bei Laune gehalten wird und seiner Mutter zuweilen ein Ersatzliebhaber ist. Das Gewebe umgreift jedoch auch ihren Ehemann, der sich in ein Sklavendasein aus physischer Apathie und zugleich romantischer Seelenflucht ergibt. Motten mit mehr oder minder ausgefahrenem Kopf hängen vom Bühnen-Himmel herab; eine Motte (Véronique Nosbaum) findet der Vater zur Liebhaberin. Sie singt und tanzt umher, inkarniert die Welt der Kunst, die sich durch das wollene Geflecht der Mutter zu fressen droht.
Eine abartige Allegorie der Kunst und der Familienstruktur zeichnen Lorang und Muller. In eine pervertierte Welt von Macht, Sexualität und Abhängigkeit entführen uns die überragend aufwartenden Darsteller Franz Leander Klee (zuständig auch für die Live-Musik), Luc Schiltz und Isabelle De Hertogh.
Was dies alles mit Jim Morrison zu tun haben soll? In der Tat beantwortet Weird scenes inside the gold mine diese Frage erst zum Schluss. Die Mordgedanken, der Wunsch nach Emanzipation und die sich immer deutlicher herauskristallisierende Dramaturgie der Produktion werden nicht zuletzt durch die wohl dosierte Einbindung des Doors-Liedes The End widergespiegelt. Das letzte Kleidungsstück, das die Mutter im Verlaufe der Handlung strickt, ist eine Zwangsjacke. Mit den Worten „All the children are insane“ leitet Morrison (Pitt Simon) die jugendliche Emanzipation in Form einer Gräueltat, dem Mord an den Eltern und dem von gesanglichem Schrei verzerrt gesungenen Inzest mit der Mutter ein:
Sicherlich sind auch Artauds und Michaux eingebundene Texte in dieser Konzeption von Belang. Die Funktion des prominentesten Songs der Doors lässt das Blut jedoch in den Adern gefrieren. Weird scenes inside the gold mine ist eine rabenschwarze Groteske, eine Allegorie, die auf realistischer Ebene nicht zu verstehen, als allegorische Struktur jedoch den abartigen Kampf gegen das Künstlerische verdeutlicht. Weird scenes inside the gold mine ist schräg, brillant verwoben, eine Dunkelkammer der menschlichen Psyche – ein ganz großer Wurf!
Es folgt der Abmarsch in die Avenue du X Septembre, in das Foyer des TNL. Eine knappe Stunde wird der Ikone der 60-er Jahre, Janis Joplin, Gehör verschafft. Eine „One-woman-performance on sex, drag and rock’n’roll“ soll The 27 Club: Decon-structing Janis bieten. Regie führen Anne Simon und Linda Bonvini. Die Räumlichkeiten des Foyers, in das auch die Theaterbar eingebunden ist, reichen, nein, sind wie geschaffen für Nickel Bösenbergs Auftritt zwischen Schminktisch, Chaiselongue und Fernsehrahmen auf der Bühne sowie Plüschhocker und Mikrofon im engen Vorderbereich zwischen Stehtischen und Sitzkissen. Mag der Club-Begriff im Titel auch eine völlig andere Bedeutung tragen, so gewinnt der Veranstaltungsort auf diese Art doch auch an Intimität, an Rock’n’Roll. Der Rock-Ikone aus Texas huldigt Bösenberg mit passender Körpersprache, divenhaftem Federschmuck und leidenschaftlichen Songvorträgen.
Dabei geht es dem Ensemble keineswegs um eine eindimensionale Hymne an die Musiklegende. Nein, der Titel verrät die in der Tat stattfindende Dekonstruktion einer jungen Frau, die zwischen die Mahlsteine von zweierlei Sehnsüchten gerät: In ihrem Unvermögen, sich zwischen künstlerischem Ruhm und familiärer Geborgenheit zu entscheiden, verfällt sie dem Drogenkonsum, wird durch jede Dosis Heroin mehr und mehr von innen aufgefressen.
Die parallele Darstellung des Facettenreichtums ist das größte Verdienst von The 27 Club. Hier arbeiten Simon und Bösenberg Hand in Hand. Eine Off-Stimme deutet auf Joplins Heroin-Konsum hin, während Bösenberg Momentaufnahmen des Glücks verkörpert. Verzerrung im Gesang, nahezu epileptische Showeinlagen, das Hinunterspülen von unzähligen Flaschen Southern Comfort und dann die Frage „Are you happy?“ reißen eine ständige Kluft zwischen die Ikone und ihre seelische Dekadenz. So beschränkt sich die Figurenkonstellation keineswegs auf die Sängerin, sondern erweitert das Konzept zu einem Spiel im Spiel. Der Darsteller kommentiert seine Rolle und mutiert vom Mann zu seinem weiblichen Alter Ego.
In diesen Kontext fügt sich ein künstlerischer Geniestreich in die Produktion ein: Je stärker der Schauspieler sich in seine Rolle versetzt, je eindeutiger Bösenberg zu Janis wird, umso eklatanter veräußerlicht sich die Identitätskrise der Figur. Je tiefer der Darsteller in seine Rolle schlüpft, umso extremer verliert sich die Rolle in gespaltenen Darstellungen.
Der schrille Auftritt von Nickel Bösenberg geht dabei einher mit einer überaus ironisch distanzierten Wiedergabe der damaligen Hippie-Zeit. So gibt Janis sinngemäß zu bedenken: „Ich war nie ein Hippie. Hippies sind bunt gekleidet, wollen die Welt verbessern, und glauben auch, dass dies möglich ist. Ich bin kein Hippie. Ich bin ein Beatnik. Beatniks finden die Welt schlecht und glauben auch nicht, dass sie besser werden kann.“ Ob sie nun Hippie-Ikone oder Beatnik-Göre war, wird sich so schnell nicht beantworten lassen.
Dem „27 Club Glossary“ des Programm-Flyers ist zu entnehmen, dass das Ensemble eines vorneweg klarstellt: „Mercedes Benz: Do note expect to hear it, he’s not gonna sing it.“ Weiter unten folgt die definitive Ansage: „Mercedes Benz: Seriously, he’s not gonna sing it“, und schließlich die letzte Glosse: „Mercedes Benz: Get over it, it’s just a car.“ Die ersten Töne, die Bösenberg von sich gibt, sind jene dieses berühmten Songs. In The 27 Club herrscht angenehme Ironie, die letztendlich verdeutlichen möchte, dass Janis nicht nur Mercedes Benz ist. Im TNL wird die Persönlichkeit über das reine Showgehabe hinaus psychologisch seziert, ohne dass dies schwerfällig wirkt.
Mit beiden Produktionen aus dem Wirkungskreis der 60-er haben das Théâtre des Capucins und das Théâtre National du Luxembourg eine mehr als unkonventionelle Theaterleistung erbracht: Neue Perspektiven auf die Hippie-Zeit leisten beide Werke. Die Bühne als bewusstseinserweiterndes Mittel? Hätten Morrison und Co. dies nur gewusst!