Die Demokratische Republik Kongo feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Am 30. Juni 1960 sagte sie sich endgültig von der belgischen Kolonialherrschaft los und sorgte sogleich für einen politischen Skandal, der auch das Großherzogtum erreichte. Während der Unabhängigkeitszeremonie machte Patrice Lumumba, erster gewählter Premierminister des Kongo, unverblümt auf das „régime d’injustice, d’oppression et d’exploitation“ aufmerksam, in dem – weiter in Lumumbas Worten – „nous avons connu les ironies, les insultes, les coups que nous devions subir matin, midi et soir, parce que nous étions des nègres.“ Die kommunistische Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek ließ es sich nicht nehmen, diese Rede für ihre „anti-imperialistischen“ Ziele zu nutzen und titelte am 2. Juli 1960: „P. Lumumba machte dem Kolonialismus den Prozess.“ Dabei waren dessen Worte in erster Linie gegen die paternalistische Rede des belgischen Königs Baudouin gerichtet, der unter anderem das Genie seines Großonkels König Leopold II., Gründer des Freistaat Kongo, geehrt wissen wollte. Unter den Zeugen dieses Eklats befanden sich auch der luxemburgische Wirtschaftsminister Paul Elvinger sowie der Botschafter in Brüssel, Lambert Schaus.
Beide waren nicht nur angereist, um die Unabhängigkeit des Kongo anzuerkennen, sondern auch, um sich über die Zukunft der etwa 600 Luxemburger in der ehemaligen belgischen Kolonie zu informieren. Auf die Präsenz zahlreicher luxemburgischer Staatsbürger in der belgischen Kolonie haben Serge Hoffmann, Marc Thiel und Romain Hilgert in den letzten Jahren wiederholt aufmerksam gemacht. In den 1950-er Jahren – den so genannten goldenen Jahren der belgischen Kolonialzeit – erreichte diese Präsenz ihren Höhepunkt. Belgien machte sich daran, seine Kolonie als Musterbeispiel sozialen Fortschritts darzustellen. Die Umsetzung des diesem Mythos zu Grunde liegenden Zehnjahresplans zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Kolonie verlangte eine hohe qualifizierte Arbeitskraft, die von den belgischen Kolonialbehörden vor allem in der Metropole – aber eben auch in Luxemburg – rekrutiert wurde. Der Plan wurde so zum Auslöser einer relativ starken luxemburgischen Emigration in die Kolonie.
Trotz des bestehenden Interesses für diese Thematik scheint die luxemburgische Öffentlichkeit ihre Brisanz doch noch nicht ausreichend wahrgenommen zu haben. Die Teilnahme des Großherzogtums am belgischen Kolonialwerk nach dem Zweiten Weltkrieg beschränkte sich nämlich nicht nur auf individuelle Partizipation. Nachforschungen im hauptstädtischen Nationalarchiv liefern Hinweise dafür, dass auch die Regierung die luxemburgische Beteiligung am Aufbau einer Musterkolonie tatkräftig unterstützte. Es stellt sich die Frage, welche Motive dem Staat hierfür zu Grunde lagen. Geschah dies etwa aus einem „Geiste des Kolonialismus“ heraus, mit dem Ziel, imperialistische Herrschaftsverhältnisse aufzubauen?
Im luxemburgischen Kolonialmilieu könnte man freilich auf die Präsenz eines solchen Geistes schließen. Der Cercle colonial luxembourgeois (CCL) sowie die Alliance coloniale Luxembourg-Outremer (Luxom), betrieben eine intensive – staatlich subventionierte – Kolonialpropaganda, die darauf abzielte, luxemburgische Staatsbürger für koloniale Karrieren zu gewinnen. Seit 1924 genossen diese die gleichen Rechte in der Kolonialverwaltung des Belgisch-Kongo wie ihre belgischen Kollegen: eine absolute Einzigartigkeit in der Kolonialgeschichte. Viele luxemburgische Kolonialisten waren deshalb wohl mit Matthias Thill, Präsident des CCL, einverstanden, wenn er behauptete, dass „le Luxembourg avait des colonies, les colonies de ses amis“. Diese Aussage bescherte Luxemburg die Mitgliedschaft in der „Fédération internationale des coloniaux et anciens coloniaux“ (FICAC), einem europäischen kolonialen Dachverband, obwohl ein Land zur Aufnahme Kolonialmacht sein musste.
Dennoch, es gilt, Öffentlichkeit und Regierung zu unterscheiden. Letztere vertrat gegenüber europäischen Kolonien eine strikte Nicht-Einmischungspolitik, da sie Peripherien als innere Angelegenheiten der jeweiligen Metropole betrachtete. So betonte der liberale Außenminister Eugène Schaus im April 1960 vor dem Abgeordnetenhaus, dass „lLe Luxembourg n’ a jamais été une puissance coloniale, de façon que les problèmes avec lesquels certains de nos pays amis sont actuellement confrontés ne nous concernent pas directement.” Die Überseegebiete seien während der gesamten Kolonialzeit von nur sehr geringem Interesse für das Land gewesen.
Diese offizielle Linie der Regierung jedoch steht in einem sehr ambivalenten Verhältnis zu ihren tatsächlichen Aktivitäten nach dem Zweiten Weltkrieg. Lambert Schaus, zu dem Zeitpunkt Mitglied im Staatsrat, betonte 1951 in einer Rede vor belgischen und luxemburgischen Kolonialisten, dass „[…] le Grand-Duché de Luxembourg s’intéresse de plus en plus à l’oeuvre coloniale belge et l’on peut prévoir, d’ores et déjà, que nos rapports avec le Congo Belge pourront gagner en ampleur et en profondeur.“ Ging es mit Schaus’ Worten hierbei etwa darum, „à propager la civilisation et le progrès”? Dies würde dafür sprechen, dass auch die Regierung dem „Geiste des Kolonialismus” anheimgefallen war. Oder stand eine gewisse Anerkennung und Prestigesteigerung gegenüber dem belgischen Nachbarn im Vordergrund? Zweifellos war die Regierung stolz auf den luxemburgischen Beitrag zum belgischen Kolonialwerk. Doch Hauptgrund einer sich während der Nachkriegszeit vertiefenden Beziehung zum Belgisch-Kongo war keiner von beiden.
Vielmehr bot der Kongo in wirtschaftspolitischer Hinsicht großes Potential für die luxemburgische Regierung. Die Schwer- und Mittelindustrie des Großherzogtums, die unter dem viel zu kleinen luxemburgischen Binnenmarkt litt, suchte händeringend nach weiteren Absatzmöglichkeiten. Schaus war deshalb fest davon überzeugt, dass „une orientation de notre économie vers le marché congolais est donc manifestement dans notre intérêt […].“ Hinzu kam, dass der belgische koloniale Entwicklungsplan qualifizierten Arbeitskräften unzählige Stellen bot – ideal zur Entlastung des luxemburgischen Arbeitsmarktes, der die vielen jungen und gut ausgebildeten Luxemburger nicht aufnehmen konnte.
Hintergedanke der Regierung also war es, die engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Belgien im Rahmen der Union économique belgo-luxembourgeoise“, die Assimilierung zwischen belgischen und luxemburgischen Staatsbürgern in der Kolonialverwaltung, sowie die sich dank des Entwicklungsplans eröffnenden Möglichkeiten für ihre wirtschaftspolitischen Interessen nutzbar zu machen. Ab 1950 liefen erste staatliche Bemühungen zu diesem Zwecke an, in deren Prozess eine enge Zusammenarbeit zwischen der Politik, der Wirtschaft und den beiden Kolonialverbänden entstand.
Im Jahr 1952 bat Arbeitsminister Nicolas Biever beide luxemburgische Kolonialverbände, dem Ministerium ihre Dienste anzubieten, um qualifizierte, aber arbeitslose junge Leute auf die Karrieremöglichkeiten des Belgisch-Kongo aufmerksam zu machen. Weiterhin wurden sie in die Kommission zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von qualifizierten Arbeitskräften berufen. Die Vereine selbst sorgten dafür, dass Stellenausschreibungen für koloniale Karrieren in den luxemburgischen Tageszeitungen veröffentlicht wurden. Gleichzeitig engagierten sich die Botschaft in Brüssel sowie das Außenministerium im Rekrutierungsprozess von Kolonialbeamten, indem sie Angebote des belgischen Kolonialministeriums an entsprechende Interessierte weiterleitete. Die Regierung also verstand es, den Wert und die Nützlichkeit beider Vereine gezielt für ihre Zwecke einzusetzen.
Bereits 1951 hatte Lambert Schaus auf die Notwendigkeit eines Repräsentanten der luxemburgischen Industrie in der Kolonie hingewiesen. Der Industriellen-Dachverband Fédération des industrielles luxembourgeois“ (Fedil), die ähnlich wie die Regierung auch nach dem Zweiten Weltkrieg begann, das Potenzial des kongolesischen Marktes zu erkunden, erhob im darauf folgenden Jahr den bereits seit einigen Jahrzehnten im Kongo lebenden Luxemburger Louis Hentges zu einem solchen Vertreter der luxemburgischen Industrie mit Sitz in Élisabethville (heute Lubumbashi). 1957 schlug Schaus, nun Botschafter in Brüssel, vor, Hentges den offiziellen Titel Conseiller du commerce extérieur zu verleihen, um seine Mission durch die Anerkennung des luxemburgischen Staats zu vereinfachen.
Ende des Jahres 1952 brach eine luxemburgische Delegation unter der Schirmherrschaft des Wirtschaftsministeriums auf eine dreiwöchige Erkundungsmission in den Kongo auf, „établissant des contacts avec les milieux industriels, commerciaux et administratifs et découvrant d’importantes possibilités de vente.“ Unter ihnen waren ein Vertreter des Wirtschaftsministeriums, ein Repräsentant der Fedil, sowie der eben genannte Louis Hentges. Die Industriemesse in Costermansville (heute Bukavu) stellte den Höhepunkt des Ausflugs dar. Auch das Großherzogtum ließ sich hier von etlichen Industriellen vertreten. Dass Premierminister Pierre Dupong den luxemburgischen Stand mit seiner Präsenz ehrte, zeigt, wie bedeutungsvoll der Belgisch-Kongo in Zwischenzeit für die luxemburgische Wirtschaftspolitik geworden war.
1955 fand eine zweite Messe mit rund 20 luxemburgischen Vertretern aus Schwer- und Mittelindustrie in Stanleyville (heute Kisangani) statt. Erneut wurden die Teilnehmer aktiv vom Wirtschaftsministerium unterstützt. Doch die staatliche Unterstützung ging noch wesentlich weiter. Der Staatshaushalt für das Jahr 1955 sah 1,5 Millionen luxemburgische Franken (Luf) für die Förderung der luxemburgischen Exporte in die Kolonie vor. Neben der Exportsubventionierung sollte ein Teil dieses Betrags auch zu Propagandazwecken genutzt werden.
Doch die Bemühungen der luxemburgischen Wirtschaftspolitik dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kolonie für die reale Wirtschaft nur eine marginale Rolle gespielt hat. Vor 1950 stellte das Großherzogtum um etwa ein Prozent aller kongolesischen Importe. Der belgische Historiker Guy Vanthemsche verweist darauf, dass für das Jahr 1956 der Anteil des Großherzogtums am Handel mit dem Kongo auf ungefähr 0,3 Milliarden von insgesamt 6,9 Milliarden Luf geschätzt werden kann. Dies machte immerhin 4,35 Prozent des gesamten Handelsvolumens des Kongo aus. Dennoch, die europäischen Nachbarländer waren bei weitem die wichtigsten Partner der luxemburgischen Exportindustrie. Der europäische Einigungsprozess, der mit der steigenden Aufmerksamkeit des Großherzogtums für den Kongo korrelierte, bot der Wirtschaft des Landes wesentlich mehr Potential als dies die weit entfernte belgische Kolonie je hätte tun können. So häuften sich ab 1955 dann auch die Klagen der Fedil und der Kolonialverbände über eine nachlassende Kongo-Begeisterung der Industrie, sowie einen Rückgang an luxemburgischen Emigranten in die Kolonie.
Außenminister Schaus’ zitierte Worte jedoch, dass die europäischen Kolonien für das Großherzogtum von nur sehr geringem Interesse waren, entsprechen trotz der nur marginalen Bedeutung des Belgisch-Kongo für die Wirtschaft nicht der Wirklichkeit: In der von der Regierung verfolgten Wirtschaftspolitik besonders während der ersten Hälfte der 1950er Jahre hatte die Kolonie ihren – wenn auch kleinen – dann doch festen Platz. Dass das Großherzogtum von den kolonialen Problemen, mit denen sich seine Nachbarn auf Grund der sich emanzipierenden Peripherien konfrontiert sahen, nicht direkt betroffen sei, trifft die Wahrheit ebenso wenig.
Mit der Unabhängigkeit des Belgisch-Kongo nämlich stellte sich für die Regierung das Problem der Repatriierung der luxemburgischen Kolonialisten sowie deren Reintegration in die heimische Gesellschaft. Das Gleichheitsstatut zwischen belgischen und luxemburgischen Staatsbürgern im Kongo führte dazu, dass Luxemburger Ansprüche auf belgische Sozialleistungen hatten. Belgien jedoch schien das Statut nicht zu respektieren, so dass die Regierung – vom CCL und von Luxom aufgefordert und gleichzeitig darum besorgt, die Leistungen nicht selbst zahlen zu müssen – mit dem Nachbar in Verhandlungen trat. Ab September 1959 begannen diese Bemühungen und zogen sich Jahre über die kongolesische Unabhängigkeit hinaus.
Auch die Reintegration der luxemburgischen Kolonialisten stellte die Regierung vor einige Probleme. Einen Teil der Heimkehrenden versuchte sie in ihren eigenen Verwaltungsapparat einzugliedern, andere in parastaatlichen Unternehmen unterzubringen. Weiterhin wurde ein Spezialdienst geschaffen, dessen Aufgabe es war, sich um die Probleme der Repatriierten sowie allgemein um kongolesische Angelegenheiten zu kümmern. An der Spitze dieses Dienstes stand Paul Pütz, mit offizieller Bezeichnung „chargé des affaires congolaises auprès du Ministère des Affaires Étrangères“. Doch alle diese Bemühungen waren nur begrenzt erfolgreich. Der LSAP-Abgeordnete Jean Fohrmann kritisierte die Regierung für ihre unzureichenden Bemühungen. So betonte er Anfang 1960, dass bis dahin erst vier von über 60 betroffenen Luxemburgern in parastaatliche Unternehmen aufgenommen worden waren. Weiterhin bemängelte er die Einstellung der Regierung, die „[…] bei der belscher Regirong proteste’eren oder intervene’eren, si soll hir Abkommen an e we’neg me’ engem large Senn ausléen,[…].“ Daraufhin fragte er sich: „[…] fir wat könne mir ons êge Gesetzer net me’ large ausléen?“
Neben den hauptsächlich wirtschaftspolitischen Motiven während der 1950-er Jahre also gesellten sich im Kontext der Unabhängigkeit weitere – innenpolitische – Motive hinzu. Die Interessen der luxemburgischen Regierung am Kongo sind nicht etwa dem „Geiste des Kolonialismus“ zuzuschreiben. Vielmehr ließ die wirtschaftliche Lage Luxemburgs nach dem Zweiten Weltkrieg den Kongo zu einer praktischen und attraktiven Lösung der Absatz- und Arbeitsmarktengpässe für die Regierung werden. Die luxemburgische Emigration in den Kongo wurde staatlich unterstützt, was schlussendlich auch dazu beitrug, dass sich das Großherzogtum – entgegen Schaus’ Aussage – sehr wohl mit Problemen kolonialer Art im Kontext der Repatriierungs- und Reintegrationsfrage konfrontiert sah. Die bereits erwähnte Ambivalenz und Widersprüchlichkeit also bleibt bestehen: Dem offiziellen politischen Dogma Glauben zu schenken, dass das Großherzogtum als Nicht-Kolonialmacht nichts mit Kolonien zu tun hatte, ist mehr als fragwürdig. Sicherlich, Kolonialmacht war es nie und eine umfassende Kolonialpolitik verfolgte es auch nicht; doch sehr wohl hat Luxemburg sich darum bemüht, die wirtschaftlichen Vorteile der belgischen Kolonie zu nutzen und die Beteiligung luxemburgischer Staatsbürger an Belgiens Kolonialwerk zu Prestigezwecken heranzuziehen.
Ob hieraus Konsequenzen für die heutige luxemburgische Entwicklungspolitik zu ziehen sind, obliegt der nationalen Politik. Als Nutznießer der wirtschaftlichen Vorteile des Belgisch-Kongo jedoch kann das Großherzogtum eine gewisse historisch-moralische Verantwortung gegenüber der ehemaligen Kolonie nicht abstreiten.