„Wir sind entschieden dabei, die Moral und das Gewissen in unserem Land totzuschlagen. An ihre Stelle kommt die Erleichterung der Scheidung, das Abtreibungsgesetz, die Sterilisierung undsoweiter. Aber das Ergebnis dieses Verbrechens an unserem Volk lässt nicht auf sich warten“, empörte sich der Rümelinger CSV-Abgeordnete Jean-Pierre Glesener, als das Parlament im Juli 1978 zum ersten und bisher einzigen Mal Ausnahmen zum absoluten Abtreibungsverbot im Strafgesetzbuch zulassen sollte. „Nein, ein solches Gesetz, das den Mord an einem unschuldigen kleinen Menschen legalisiert, und unser Land damit dem nationalen Ruin zuführt, können ich und meine Fraktion nicht stimmen.“
Gleseners Parteikollege Winkin, sechzehnfacher Großvater, zitierte stolz die Volksweisheit: „Léiwer engt um Këssen, wéi engt um Gewëssen.“ Und Parteichef Pierre Werner fragte das Parlament, „si l’actuelle vague pansexuelle reflétée par le projet gouvernemental n’est pas une nouvelle invention diabolique du sexe masculin d’asservir la femme, de manquer définitivement de respect à l’égard de l’amour telle que les femmes à l’esprit droit et généreux le conçoivent.“ Denn, so Kollege Jean Spautz, „es gibt niemand anderes als die Kirche, die seit 2 000 Jahren an der Spitze stand und für die Emanzipation der Frau eintrat“.
Vergangene Woche hinterlegte Justizminister und bis vor kurzem CSV-Präsident François Biltgen einen seit den Koalitionsverhandungen zwischen CSV und LSAP ausgehandelten Projet de loi portant modification de l’article 353 du Code pénal. Seit Pierre Werner vor über 30 Jahren mit einem Gesetzesvorschlag zum Schutz des ungeborenen Lebens bereit war, Abtreibungen ausnahmsweise zuzulassen, um das Leben der Schwangeren zu retten, ist es das erste Mal, dass die CSV eine Ausnahme zum Abtreibungsverbot vorschlägt.
Der radikalste Gesetzesvorschlag zur Liberalisierung der Abtreibung, der auch über den Vorschlag von Lydie Err (LSAP) von 2007 hinausgeht, wurde 1972 vom ehemaligen LSAP-Präsidenten Antoine Wehenkel vorgelegt, der die Abtreibung aus dem Strafgesetzbuch streichen und stattdessen kurz und bündig dekretieren wollte: „L’avortement est licite sur simple demande et sans qu’il soit nécessaire de justifier d’indications précises si l’intervention a lieu dans les trois premiers mois de grossesse.“ Doch der Staatsrat meinte in einem Mehrheitsgutachten vom 6. Juni 1978: „Le Conseil d’État estime, à son tour, qu’en aucun cas, une femme ne doit avoir le droit de refuser librement et à sa seule discrétion une maternité, même non désirée, et que l’avis favorable du seul médecin traitant, gynécologue ou non, ne saurait suffire à rendre licite un acte supprimant la vie naissante.“
Bis dahin schrieb das Strafgesetzbuch von 1879 vor: „La femme qui, volontairement, se sera fait avorter sera punie d’un emprisonnement de deux à cinq ans et d’une amende de cent francs à cinq cent francs.“ Ein Jahrhundert später war, wie in vielen anderen Ländern, eine Reform des Abtreibungsverbots die ganzen Siebzigerjahre über ein viel diskutiertes Thema. Durch das von der CSV lautstark bekämpfte und bis heute gültige Gesetz von 1978 sollte dann eine Abtreibung straffrei bleiben, wenn die Folgen der Schwangerschaft „risquent de mettre en danger la santé physique ou psychique de la femme enceinte“. Der letzte Woche von CSV und LSAP vorgelegte Gesetzentwurf soll neben der medizinischen eine soziale Ausnahme zulassen und eine Abtreibung erlauben, wenn die Schwangerschaft „place la femme enceinte dans une situation de détresse d’ordre physique, psychique ou social.“
Biltgen meinte letzte Woche vor dem Parlament, dass der Gesetzesvorschlag „die Tabuisierung der Abtreibung aufheben“ werde und „die Frau selbst entscheiden“ könne. Gleichzeitig warnte er aber auch, dass „die Abtreibung nicht liberalisiert, sondern mehr Rechtssicherheit geschaffen“ werde. Diese Widersprüchlichkeit hat ihren Grund. Denn für eine konservative katholische Partei ist jede Diskussion über das Abtreibungsverbot mehr als eine weitere Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel unter anderen. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist schließlich seit Jahrzehnten der leidenschaftlichste Schlachtruf der katholischen Rechte, weil er wie kein anderer ihre Anhängerschaft mobilisiert und radikalisiert. Trotz der Erbsünde erscheint der Fötus ihr als die höchste Form der Unschuld. Deshalb halten die Lebensschützer, die oft Befürworter der Todesstrafe sind, die Abtreibung für die verwerflichste Form der Kindestötung. Zudem berührt die Abtreibung religiöse Tabus der weiblichen Sexualität und Selbstbestimmung.
Kurz vor seiner Pension erinnerte sich Luxemburger-Wort-Leitartikler Léon Zeches in einem Interview mit Paperjam: „À ma connaissance, il n’y a eu qu’un seul cas, en 42 ans, où l’évêché est intervenu. [...] Dans la surenchère verbale, tout le monde a fini par aller un peu trop loin et l’évêque de l’époque, Mgr Hengen, avait appelé le directeur du Wort, André Heiderscheid, pour lui dire de me demander d’être plus calme.“ 1975 hatten rechte Katholiken das Œuvre pour la vie naissante gegründet, das in zahlreichen Beilagen im Luxemburger Wort all die Mordvorwürfe und Fötusbilder ausländischer Abtreibungsgegner nachdruckte, um zum Kreuzzug gegen jede Lockerung des Abtreibungsverbots aufzurufen.
In sozialen und wirtschaftlichen Fragen verzichtete die CSV in den letzten Jahren wiederholt auf ihren rechten Rand, um in der Mitte um so mehr jüngere und weibliche Wähler anzusprechen. Doch in der Abtreibungsfrage muss sie einen Kompromiss mit der katholischen Kirche und deren Luxemburger Wort suchen, das oft dem rechten Rand der CSV am nächsten ist, um nicht deren Unterstützung einzubüßen.
Wobei gerade die katholische Kirche sehr kompromisslose Positionen vertritt. Bischof Jean Hengen hatte in einem Gutachten zur Reform von 1978 betont: „L’avortement provoqué, même légalisé ou autorisé par la loi, est toujours une atteinte grave à la vie: c’est la destruction délibérée d’un être humain innocent. Personne n’a le droit de tuer ou de décider de la possibilité de supprimer un être humain innocent et sans défense. C’est donc avec la même fermeté qui a caractérisé déjà l’attitude de l’Église, depuis les premiers siècles chrétiens jusqu’aux innombrables déclarations des papes et des évêques de nos jours, que je réprouve l’avortement comme tel et que je me vois obligé de rejeter le présent projet de libéralisation.“ Und Domprobst und Luxemburger-Wort-Direktor André Heiderscheid hatte bereits einige Jahre zuvor in einer Schrift des Großherzoglichen Instituts das Kirchenrecht zitiert, laut dem „tous ceux y compris la mère, qui provoquent un avortement, encourent, l’effet s’étant produit, l’excommunicaton ‚latae sententiae’ dont l’absolution est réservée à l’Ordinaire du lieu“.
Der 1946 gegründeten und im Laufe der Jahre an den rechten Rand der CSV geglittenen Action familiale et populaire schien in ihrem Gutachten vom 15. Februar 1978 Artikel 353 des Strafgesetzbuchs „angesichts der Definition, welche die Regierung für den Begriff ‚Gesundheit’ gibt, die Höhe der Hypokrisie und ein bares Verschleierungsmanöver zu sein, das alle Türen öffnet für jede Form der Abtreibung. Jede Schwangerschaft, jede Geburt, jedes Kind in der Familie kann nämlich das ‚Wohlbefinden’ der Frau, ihr seelisches Gleichgewicht in Gefahr bringen. Unter diesen Voraussetzungen ist es der AFP unmöglich, ihre Zustimmung zu einem derart sophistischen und hinterhältigen Text zu geben. Nach Auffassung der Regierung beinhaltet die Gesundheit ‚l’état complet du pont de vue physique, mental et social’. [...] Außerdem käme dies auf eine Sozialindikation heraus, die aber als solche im Regierungstext nicht zurückbehalten wurde“.
Die damals im Motivenbericht zum Gesetzentwurf zitierte Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation war der CSV und den ihr nahe stehenden Vereinigungen Vorwand genug, um der Regierung vorzuwerfen, die medizinische Indikation im Gesetz sei eine getarnte soziale Indikation. Also genau das, was nun in François Biltgens aktuellem Gesetzentwurf steht. Doch „la libéralisation de l’avortement pour des raisons sociales ou familiales“, hatte Pierre Werner (CSV) in seiner Proposition de loi relative à la protection de la vie naissante geschrieben, „donnerait lieu aux pires abus“. Und CSV-Abgeordneter Jean Wolter wusste sogar: „Es ist übrigens in Wirklichkeit keine Indikationslösung, sondern eine verkappte Fristenlösung, so wie die Sozialisten sie wollten.“ Also genau das was ihrerseits die LSAP-Spitze derzeit über den mit der CSV ausgehandelten Gesetzentwurf sagt. In den nächsten Monaten wird sich folglich zeigen, ob es der CSV gelingen wird, die katholische Rechte zu beruhigen – und ob sie ihren Abgeordneten Gewissensfreiheit einräumt wie beim Euthanasiegesetz.