„Wir haben falsche Rücksichten genommen. Falsche Rücksichten auf den Ruf der Kirche, auf bestimmte Institutionen, auf den Ansehensverlust.“ Scharf prangerte der Trierer Bischof Stephan Ackermann am Mittwoch unzählige Vertuschungsfälle in der katholischen Kirche an. Ja, es habe Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen gegeben. Jahrzehntelang wurden Täter einfach nur versetzt und ihre Taten damit unter den Teppich gekehrt. Auch im Bistum Trier, wo ein Kaplan Anfang der 1960-er Jahre einen Jugendlichen mehrfach sexuell missbraucht haben soll.
Zur gleichen Zeit, knapp 50 Kilometer Luftlinie entfernt, scheint die Welt noch in Ordnung. Da sorgte die katholische Kirche mit einem Angebot für Schlagzeilen. Man habe beschlossen, eine Anlaufstelle einzurichten, bei der sich eventuelle Opfer von sexuellen Übergriffen durch Mitarbeiter der katholischen Kirche melden könnten, hatte Generalvikar Mathias Schiltz am 11. März nach der Sitzung des Domkapitels angesichts der Flut von Klagen in Deutschland im RTL-Fernsehen erklärt. Luxemburg sei „keine Insel“ und es sei „nicht ausgeschlossen, dass diese skandalöse Welle auch Luxemburg erfassen und bisher unbekannte Fälle zu Tage fördern“ könnte, räumte der bischöfliche Stellvertreter ein.
Solch präventive Offenheit überrascht. Denn bislang war sexueller Missbrauch ein Tabu, zumal durch Angehörige der katholischen Kirche, die bisher wenig dazu beigetragen hat, dass sich das änderte. Gerüchteweise machten immer mal wieder üble Geschichten von Übergriffen durch pädophile Priester die Runde, gerne auf kleinen Dörfern, aber außer der Burgfried-Affàre Ende der 60-er Jahre, bei der es um sexuelle Handlungen zwischen einem Religionslehrer und einem Schüler ging, schaffte es kaum ein Fall vor Gericht.
Jetzt gibt der Generalvikar zu, die Kirche habe Kenntnis von bis zu zehn Tätern in den vergangenen 50 Jahren gehabt, drei von ihnen wurden rechtskräftig verurteilt. Was den Verurteilten im Einzelnen vorgeworfen wurde, könne er nicht nachvollziehen, da die Fälle vor seinem Amtsantritt 1965 zurückdatieren. Eine kleine Erinnerungshilfe: Dem Land liegt eine Aussage vor, wonach ein Geistlicher aus Biwer Mitte der 60-er Jahre zu acht Jahren Haft vururteilt wurde, weil er sich an 30 Kindern vergangen hatte. Zuvor hatte der Pfarrer in Boxhorn bei Clerf sein Unwesen getrieben. Die anderen zehn hätten auf Gerüchten von Drittpersonen basiert, beteuert Schiltz, der „immer konsequent und präventiv“ gehandelt haben will.
Das bedeutet aber auch: Bislang regelten die Luxemburger Kirchenführer derlei Verdachtsmomente wie ihre Glaubensbrüder in Deutschland – intern, gut abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Erst als in Deutschland vor zehn Jahren die Kritik immer lauter wurde, die Kirche lasse sich nicht in die Karten gucken und praktiziere ein Sonderrecht jenseits von Polizei und Justiz, beschloss die Deutsche Bischofkonferenz 2001 einen Leitfaden für den Umgang mit sexuellem Missbrauch. Im entscheidenden Punkt jedoch blieb alles beim Alten: Selbst bei erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger waren die Diözesen angehalten, Verdächtige zur Selbstanzeige zu ermutigen und „je nach Sachlage“ die Staatsanwaltschaft zu informieren. In Luxemburg gibt es keine landeseigenen Leitlinien, es gelten die Vorgaben aus Rom: ebenfalls strengste Geheimhaltung und Vertraulichkeit. Als oberstem Personalchef sind dem Generalvikar eventuelle Vorfälle zu melden.
Jetzt also die Umkehr. „Wir haben wirklich in den letzten Wochen gelernt, dass man den Opfer zuhören muss, auch wenn die Fakten 30 oder 40 Jahre zurückliegen“, betont Kirchensprecher Theo Péporté im Land-Gespräch. Für aktuelle Verdachtsfälle seien die Strafbehörden zuständig. „Es kann nicht sein, dass Kirchenrecht über nationales Recht steht“, betont der Kommunikationsexperte. Die Anlaufstelle sei vor allem für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen gedacht, die weiter in der Vergangenheit zurück liegen.
Das tiefe Misstrauen, vor allem besorgt um das eigene Image zu sein, wird die Kirche jedoch so leicht nicht abschütteln können. Dass das „Bündnis fir d’Trennung vu Kierch a Stat“ den Vorstoß als Versuch wertet, „unter dem Deckmantel des schlechten Gewissens“ ein Gremium zu schaffen, „welches die Missbrauchsopfer weiterhin von regulären Instanzenwegen abzuhalten versucht“, erklärt sich auch dadurch, dass noch völlig unklar ist, wie das Gremium funktionieren soll, wer es leitet und wie es mit den Strafvollzugsbehörden zusammen arbeiten wird. Klar ist nur, dass ihr eine wahrscheinlich weibliche Person vorstehen soll, die „kompetent in der Opferberatung“ ist, die außerhalb der Kirchenleitung stehe und die von Juristen, Psychologen, Theologen und Kirchenrechtlern beraten werden soll.
Der liberale Abgeordnete Xavier Bettel verlangte in einer Dringlichkeitsanfrage vom Justizminister weitere Aufklärung. Woraufhin ein sichtlich verärgerter François Biltgen am Dienstag bestätigte: Gemäß Artikel 23 der Strafprozessordnung ist allein die Staatsanwaltschaft für die Aufklärung von Straftaten zuständig, was Generalstaatsanwalt Robert Biever bekräftigt, egal ob die Fälle verjährt sind oder nicht. Biltgen warb zugleich um Verständnis für die Initiative der Kirchenführung, der es, wie anderen Institutionen auch, zustehe, disziplinarrechtlich einzugreifen. Für den Minister kommt die Angelegenheit ungelegen: Soeben wurde die Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch auf zehn Jahre verlängert, ab dem 18. Lebensjahr gezählt. In Deutschland kritisieren Opferschutzverbände diese Frist als zu kurz. Auf die Frage, wie die Zusammenarbeit zwischen Strafvollzugsbehörden und Kirche konkret aussehen soll, ging Biltgen nicht ein, auch nicht, ob die Kontaktperson der Schweigepflicht – A und O für einen wirksamen Opferschutz – unterliegt. Wobei zu fragen ist, ob eine kirchliche Anlaufstelle wirklich die beste Lösung für Opfer von Übergriffen durch Kirchenmitarbeiter ist.
Vor diesem Hintergrund irritiert das große Selbstvertrauen mit dem die Kirchenspitze ihr Angebot unterbreitet. Er denke nicht, „dass man von einem wirklichen Schneeballeffekt in Luxemburg ausgehen kann, das heißt, dass man die von mir erwähnte Zahl mit weniger als zehn Verdachtspersonen jetzt mit zehn oder 100 multiplizieren müsste“, hatte Mathias Schiltz im – wenig kritischen – Interview mit dem Luxemburger Wort gemeint. Woher nimmt er diese Gewissheit? Die Skandale in den USA, Irland, Deutschland und nun in ersten Ansätzen in Italien und Spanien legen das Gegenteil nahe: Ist der Bann erst einmal gebrochen, gibt es kein Halten mehr. Die Krise der katholischen Kirche ist in diesen Ländern eine der schlimmsten seit dem Zweiten Weltkrieg – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Anders als in Irland, wo die Kirche aus der schulischen und der Heimerziehung kaum wegzudenken ist, spielt die hiesige Kirche diesbezüglich eine geringere Rolle. Was nicht heißt, dass es keine katholischen Einrichtungen gab und gibt, in denen Übergriffe möglich wären. Am Donnerstag meldete sich ein Mann per Brief beim Generalvikar: Er sei in den 60-ern und 70-er Jahren im Jungenheim „Jean-Baptiste de la Salle“ von Bettange/Mess der Schulbrüder „Frères des écoles chrétiennes“ missbraucht worden. Allein die dortigen Übergriffe würden die Zahl zehn übertreffen, und obwohl er den Missbrauch gemeldet habe, sei dort „alles vertuscht worden“, zitiert das Wort die hinten im Lokalteil aufgeführte Leserzuschrift.
Ist das der Anfang einer Lawine, hat jetzt auch die Luxemburger katholische Kirche „ihren“ Missbrauchsskandal? Was folgt noch? Die ersten Fälle, die in den USA aufgedeckt wurden, lagen ebenfalls viele Jahrzehnte zurück. Denn so lange dauert es oft, bis sich die Opfer sicher genug fühlen, um über ihre Erfahrungen zu reden. Viele waren ihren Peinigern ausgeliefert und erlebten große Angst, die noch Jahre später anhält. Dazu kommt die Scham. In einem kleinen Land wie Luxemburg verbreiten sich Gerüchte rasend schnell. Anonymität zu bewahren, ist nicht leicht. Wer aber einmal als Opfer abgestempelt wurde, für den ist es schwer, das Stigma wieder loszuwerden. Das gilt auch umgekehrt: In einer Privatschule war vor vier Jahren ein Lehrer fälschlicherweise der sexuellen Belästigung beschuldigt und entlassen worden. Er wurde frei gesprochen, hat aber bis heute keine neue Anstellung in einer Schule gefunden.
Wie stark Tabus (nach)wirken, lässt sich noch woanders beobachten, was – im Extremfall – für die Betroffenen ähnlich traumatisierend sein kann: die Prügelstrafe. „Les punitions corporelles sont interdites“ stellte 1845 ein Règlement zur Primärschule fest. Es ist aber noch nicht lange her, dass Schläge von Lehrpersonen auch in Luxemburg als legitime Machtdemonstration im Klassenzimmer galten. Kaum jemand, der nicht eine Geschichte von einem Pfarrer oder einem Lehrer kennt, der harte Kopfnüsse verteilte, mit einem Lineal „die Hände und den Hintern grün und blau“ schlug oder durch andere Strafak-tionen auffiel. Ein älterer Herr erinnert sich: „Wenn ich zuhause erzählt hätte, der Lehrer habe mich geschlagen, hätte ich von meinen Eltern noch eine dazu bekommen.“ Prügelstrafe war hierzulande bis weit in die 70-er Jahre verbreitet.
Das hat sich geändert. Körperliche Gewalt als Erziehungsmittel ist verboten. In Irland und Deutschland ist die Öffentlichkeit auch darüber erschrocken, dass diese rabiaten Erziehungsmethoden mancherorts bis in die 90-er Jahre überdauerten. Immer mehr Betroffene erinnern sich an die Angst und den Schrecken, den jene „Pädagogen“ verbreiteten. Auch deshalb wäre es wichtig, wenn diese Verfehlungen thematisiert und die Anlaufstelle – und andere – umfassend genutzt würden: Das wäre der Beginn für eine längst überfällige Debatte über Machtmissbrauch in Institutionen, nicht nur in katholischen. Und würde vielleicht ein sinnvolles Tabu stärken: die Ächtung von Übergriffen jeglicher Art durch Erwachsene auf ihnen anvertraute Schutzbefohlene.