Mit einer Gedenkplatte, parlamentarischen Entschließungsanträgenund einigen manchmal hastig nachgereichten Presseerklärungen wurde diese Woche daran erinnert, dass esinzwischen 90 Jahre her sind, dass erstmals Frauen an Kammerwahlen teilnehmen durften. Zwar ist 90 keine besondersrunde Jahreszahl und die entscheidende Verfassungsreformjährte sich schon im Mai, aber den Frauenverbänden kam dasDatum verständlicherweise gelegen, um noch einmal an ihreForderungen nach Geschlechterquoten und anderen Fördermaßnahmen zugunsten von Kandidatinnen zu erinnern.
Trotz der historischen Reminiszenzen wurde dabei allerdingsübersehen, auf welch überraschende Weise die Geschichte dabei ist, sich zu wiederholen. Weder die Verfassung von 1848, noch jene von 1856 oder 1868 schlossen bis 1919 ausdrücklich die Frauen vom Wahlrecht aus. Obwohl an anderen Stellen dieser Verfassungstexte mit „die Luxemburger“ die Staatsangehörigenbeiderlei Geschlechts gemeint waren, schien es soselbstverständlich, dass beim Wahlrecht mit „die Luxemburger“nur die Männer gemeint waren, dass jahrzehntelang niemandüberhaupt auf die Idee kam, die Frage aufzuwerfen.
Die in dieser Woche verbreiteten Erklärungen zeigen, dass sich durch die erfolgreiche Lobbyarbeit der Frauenverbände und die identitäre Tribalisierung nun der Eindruck durchsetzt, als ob 1919 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Dabei wurde in Wirklichkeit etwas viel Größeres und viel Wichtigeres eingeführt, nämlich das allgemeine Wahlrecht. Selbstverständlich erhielten auch die bis dahin ausgeschlossenen Frauen das Wahlrecht, aber mit ihnen viele andere vom politischen Geschäft Ausgeschlossene beiderlei Geschlechts, die Arbeiter, die kleinen Bauern, die ärmeren Handwerker, dieAngestellten, die kleinen Beamten, die Dienstboten und Tagelöhner, also die Mehrheit der Bevölkerung. Vielleicht war nicht 1848, sondern 1919 die Geburtsstunde der Demokratie in Luxemburg, wenn man sich an Slavoj Zizeks Formel hält: „From Ancient Greece, we have a name for the intrusion of the excluded into the socio-political space: democracy.“ Auf jeden Fall stellt die nach dem Ersten Weltkrieg eingeführte Verallgemeinerung des bis dahin auf die reichsten Steuerzahler beschränkten Wahlrechts einen Höhepunkt der Demokratie in diesem Land dar, der bis heute unübertroffenen blieb.
Doch so wie bis 1919 die Frauen in den Wahlbestimmungen„vergessen“ worden waren, so werden heute all jene gesellschaftlichen Klassen und Schichten, die 1919 ebenfalls wahlberechtigt wurden, vergessen. Vielleicht weil sich niemand andie Umstände erinnern will, unter denen nach dem Ersten Weltkrieg die männliche Oberschicht ihr Wahlmonopol an das Volk verlor. Vielleicht weil niemand eingestehen will, dass die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert nur unter undemokratischenBedingungen möglich war. Vielleicht weil die soziale Zusammensetzung der Kammer heute so aussieht, als ob das passive Zensuswahlrecht nie abgeschafft worden wäre.
Als historische Lehre von 1919 kündigte Chancengleichheitsministerin Françoise Hetto-Gaasch diese Woche an, über die Wahlkampfkostenerstattung die Aufstellung von Kandidatinnen durch die Parteien staatlich bezuschussen zu wollen.Aber hinter der hehren Absicht verbirgt sich ein Verständnis vom allgemeinen Wahlrecht und von Demokratie, das demjenigen von Abwrackprämien zugunsten schadstoffarmer Autos gleichkommt. Denn danach fehlt nur noch die Abschaffung von Artikel 95 des Wahlgesetzes, um den Wählern gleich Geld dafür anzubieten zu können, dass sie Angehörige statistisch unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen wählen.