d’Land: Herr Pereira, was stört den OGB-L am meisten an den Pensionsreformideen der Regierung?
Carlos Pereira: Bisher liegt noch nicht viel vor. Vor zwei Wochen bekamen wir von der Regierung eine drei Seiten lange Notiz. Darin ist vieles noch ganz vage. Konkreter sind dagegen schon Maßnahmen auf der Ausgabenseite. So kann es unserer Meinung nach nicht gehen: nicht mit einseitigen Schritten nur bei den Ausgaben. Da liegt unser Problem.
Die Leute werden aber immer älter. Da macht es prinzipiell doch Sinn, für dieselbe Pension länger zu arbeiten: Man nimmt sie ja anschließend länger in Anspruch.
Das ist der Diskurs, den der Finanzminister führt. Ich antworte darauf: Wer mit 68 stirbt, der hat sich vorher nicht ausgerechnet, was er in der Summe vielleicht beziehen könnte. Und nach dem, was bisher auf dem Tisch liegt, würde man nicht dieselbe Rente wie heute bekommen, nachdem man drei Jahre länger gearbeitet hat. Negative Auswirkungen auf die Witwen- und Waisenrenten hätten die Änderungen auch. Die Höhe der Rente hängt generell stark ab vom Gesamtverdienst, multipliziert mit dem so genannten proportionalen Erhöhungsfaktor. Der liegt zurzeit bei 1,85, die Regierung will ihn auf 1,6 senken. Das ist die konkreteste Leitlinie im Moment. Gleichzeitig soll ein Anreiz geschaffen werden, länger zu arbeiten: Ab 60 Lebensjahren und 40 Beitragsjahren stiege der Erhöhungsfaktor jährlich um 0,05. Drei zusätzliche Arbeitsjahre aber brächten den Faktor nicht auf 1,85, sondern nur auf 1,75.
Man müsste also noch zwei Jahre länger arbeiten. Dann hätte, wer nach 40 Beitragsjahren 60 war, das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht.
Allerdings hätte er 45 Beitragsjahre hinter sich. Und heute erzählt man den Leuten, sie brauchten nur drei Jahre länger arbeiten zu gehen, um auf dieselbe Pension zu kommen wie im aktuellen Regime. Diese Rechnung geht in keinem Fall auf, auch nicht mit 45 Beitragsjahren. Denn während 40 Jahren würde eine Steigerung von 1,6 angewandt anstatt 1,85 wie heute. Hinzu kommt, dass es heute schon Anreizmechanismen gibt, länger zu arbeiten. Sie gelten ab einem Lebensalter von 55 Jahren und 38 Beitragsjahren. Sind beide Bedingungen erfüllt, steigt der Erhöhungsfaktor von 1,85 aus mit jedem zusätzlichen Jahr um 0,02. Maximal kann er 2,02 betragen. Ein 55-Jähriger, der nach diesem System bis 60 arbeitet, hat seinen Erhöhungsfaktor auf 1,95 gebracht.
Der große Bruch mit dem heutigen Regime würde aber erst für diejenigen zutreffen, die nach Inkrafttreten der Reform ihre Beitragskarriere beginnen.
Schon richtig. Doch die Auswirkungen auf die, die bereits Beitragsjahre absolviert haben, wären ebenfalls beträchtlich. Nehmen wir an, ein Rentner erhielte nach dem heutigen Regime nach 40 Beitragsjahren eine Rente von monatlich 3000 Euro. Wer nach Inkrafttreten der Reform Beitragszahler wird, bekäme wegen des gekürzten Erhöhungsfaktors nach 40 Jahren rund 15 Prozent, also 350 bis 450 Euro, weniger. Wer vor Inkrafttreten der Reform schon 20 Jahre lang Beiträge gezahlt hat und noch 20 Jahre unter dem neuen Regime zu absolvieren hätte, bekäme nach 40 Jahren etwa 100 bis 150 Euro weniger. Monat für Monat. Das ist viel!
Anscheinend will die Regierung einen Umverteilungsmechanismus einführen. Der proportionale Erhöhungsfaktor, der von 1,85 auf 1,6 gesenkt werden soll, bestimmt ja vor allem die großen Renten. Daneben gibt es in der Rentenformel einen pauschalen Erhöhungsfaktor, der die kleinen Renten bestimmt. Der soll angehoben werden.
Das hat die Regierung angekündigt, aber noch nicht beziffert.
Glauben Sie, dass auf diesem Weg eine Art Ausgleich möglich wäre: Dass man die größeren Renten belastet, die kleineren dagegen sogar aufwertet, wie der Sozialminister angedeutet hat?
Schwer zu sagen, so lange nicht klar ist, was die Regierung will. Grundsätzlich aber dient der pauschale Erhöhungsfaktor in der Rentenformel vor allem dazu, die Mindestrente abzusichern. Eine Person, die während ihrer gesamten Beitragskarriere nur den Mindestlohn bezog, hat ja seit dem Rententisch 2002 von Amts wegen Anspruch auf eine Rente von 90 Prozent des Mindestlohns. Wie sich Änderungen am pauschalen Erhöhungsfaktor über die Mindestrente und Kleinrenten hinaus auswirken, habe ich noch nicht nachgerechnet. Ich würde sagen, dass dadurch der Verlust auf einer Rente, die nach dem aktuellen Regime 2000 Euro betrüge, vielleicht noch ein wenig kompensiert würde. Darüber hinaus aber wohl nicht mehr.
Schafft das ein Gerechtigkeitsproblem, zum Beispiel gegenüber Leuten in besonders anstrengenden Berufen?
Es könnten sich viele Gerechtigkeitsprobleme stellen. Einerseits durch die Kürzungspläne. Andererseits ist die Reform noch nicht durchdacht genug. Wir haben den Sozialminister gefragt: Was ist mit den Leuten, die wir in Frührente schicken? Wer 20 Jahre lang im Drei-Schicht-System gearbeitet hat, kann heute mit 57 Lebensjahren und nach 37 Beitragsjahren in Frührente gehen. Geben wir denen einen Schlag ins Gesicht? Wir bekamen zur Antwort, die Rechte dieser Leute würden selbstverständlich garantiert. Dazu steht aber nichts in dem Text der Regierung. Wie individuelle Rentenrechte gebildet werden sollen, steht ebenfalls nicht drin. Dass die Ausbildungszeit, die als Ergänzungszeit angerechnet werden kann, von neun auf fünf Jahre gekürzt werden soll, finde ich eine Frechheit gegenüber den Jugendlichen. Im Wachstumspapier Luxemburg 2020 wünschen wir uns, dass 40 Prozent der jungen Leute einen Hochschulabschluss erwerben, aber ausgerechnet sie bestrafen wir. Oder nehmen wir die Invalidenrentner: Deren Rente wird künftig mit dem Faktor 1,6 berechnet, doch sie haben keine Chance, ihn zu erhöhen. Damit sind wir nicht einverstanden.
Warum lehnt der OGB-L die Reformleitlinien dann nicht rundweg ab?
Der Nationalvorstand hat am Donnerstag vergangener Woche einstimmig Nein zu den Leitlinien gesagt.
Dennoch bleibt der OGB-L verhandlungsbereit und wartet auf weitere Informationen der Regierung. Doch allein die Leistungskürzungen, von denen die Regierung spricht, würden eine der „roten Linien“ überschreiten, die Gewerkschaftspräsident Jean-Claude Reding am 8. März gezogen hat: Es gebe „keinen Grund“, die Leistungen „in irgendeiner Weise zu verschlechtern“.
Das Papier der Regierung überschreitet noch eine zweite rote Linie: Dass der OGB-L jede Änderung an der alle zwei Jahre fälligen Rentenanpassung an die Lohnentwicklung ablehnt, hat Jean-Claude Reding ebenfalls gesagt. Nun aber soll das Ajustement einem Regulationsmechanismus unterworfen werden, von dem noch kein Mensch gesagt hat, wie er genau aussehen soll. Trotz alledem wollten wir nicht gleich auf totale Konfrontation gehen. Wir wollen nicht, dass uns vorgeworfen werden könnte: Ihr habt ja gleich das erste Dokument verworfen! Die Leitlinien lassen noch viele Fragen offen. Für die Woche vor den Osterferien wurde uns ein vervollständigtes Leitlinien-Papier zugesagt.
Könnte es ein Kalkül der Regierung sein, Informationen zur Reform häppchenweise herauszugeben, damit die Akteure diskussionsbereit bleiben – weil einfach keiner es sich leisten kann, die Reform abzulehnen, da er ja nicht genug weiß? Der OGB-L lässt sich ja offenbar einbinden.
Wir haben dem Sozialminister und dem Finanzminister vergangene Woche unsere Meinung gesagt. Wir wollen, dass das Dokument fundamental geändert wird. Wir sind momentan dabei – das hat ebenfalls der Nationalvorstand beschlossen – die Meinungen unserer Syndikatsleitungen und all unserer Abteilungen einzuholen. Daraus wollen wir zu verschiedenen Diskussionen mit der Regierung kommen. Was wir derzeit erleben, ist eine Hauruck-Aktion. Es ist kurios: Es gab jahrelange Vorarbeiten. Anfang 2009 veröffentlichte die Generalinspektion der Sozialversicherung eine Analyse des Pensionssystems, Mitte 2009 die UEL ihre Version, Anfang 2010 erschien die der Salariatskammer. Im Mai 2010 meinte der Premier in seiner Erklärung zur Lage der Nation noch, Luxemburg könne sich eine breite Pensionsreformdebatte ohne Zeitdruck leisten. Nun soll alles ganz schnell gehen. Die Regierung gebar nach den Jahren der Vorarbeit drei Seiten nicht zu Ende gedachter Leitlinien, und wenn das Timing stimmt, das man uns dargelegt hat, dann soll die Debatte bis zu den Sommerferien beendet sein und gleich danach der Reformgesetzentwurf auf den parlamentarischen Instanzenweg geschickt werden. Er könnte theoretisch bis Ende des Jahres verabschiedet werden und Anfang 2012 in Kraft treten.
Luxemburg steht unter Handlungsdruck von der EU her.
Ich meine, das ist das Problem. Allerdings sollten wir uns von Europa nicht unter Druck setzen lassen. Unsere Pensionsreserven liegen derzeit bei 10,4 Milliarden Euro. 24 Prozent der beitragsfähigen Lohnmasse fließen in die Pensionskasse, obwohl momentan 21 Prozent ausreichen würden zur Deckung der Ausgaben. Dadurch wächst die Reserve pro Jahr um mindestens 600 Millionen Euro, und das wird allen Zukunftsszenarien nach noch bis in die 2020-er Jahre so weitergehen. Sollte die Reform wirklich nur an den Ausgaben ansetzen, sagen wir Njet. Für den OGB-L ist klar, dass unser Pensionssystem vielleicht – ich sage bewusst: vielleicht – in finanzielle Probleme geraten könnte. Wir sind auch der Meinung, dass man vielleicht – ich sage noch einmal: vielleicht – etwas unternehmen muss. Wir hatten ja schon die statistisch steigende Lebenserwartung erwähnt. Wobei das offenbar nicht überall zutrifft: In den USA zum Beispiel stagniert die Lebenserwartung.
Heißt Mischlösung, der OGB-L wäre bereit, Änderungen an den Ausgaben zu akzeptieren, wenn es auch welche auf der Einnahmenseite gibt? Bisher sah er einen Handlungsbedarf ja höchstens bei den Einnahmen.
Wir sagen: Die komfortable Lage unserer Reserven erlaubt uns Reformen entlang der Zeitschiene. Man sollte heute die Diskussion über das Pen-sionswesen mit beschäftigungspolitischen Diskussion verknüpfen. Man muss Anreize im Arbeitsrecht schaffen, damit es überhaupt machbar wird, länger zu arbeiten. Man muss die Kündigungsgesetzgebung überdenken, die Gesetzgebung über Kollektiventlassungen, die über die Invalidenrenten und die über berufliche Wiedereingliederung von Personen, die aus Gesundheitsgründen arbeitsunfähig an ihrem letzten Arbeitsplatz geworden sind. Falls all das nicht richtig wirkt, kann man Anreize auch im Pensionssystem selbst einrichten und außerdem auf der Einnahmenseite etwas unternehmen – ehe man ganz zum Schluss Leistungen kürzt.
Die Regierung wird, mit der EU, aber vermutlich nicht akzeptieren, dass am Pensionssystem erst einmal nichts unternommen wird.
Darüber werden wir verhandeln müssen. Der OGB-L ist bereit dazu. Will die Regierung einseitig die Leistungen kürzen, hat sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Robert Kieffer, der Präsident der Pensionskasse, hat Anfang des Jahres seine Idee von einem „Nachhaltigkeitsfaktor“ öffentlich gemacht: Sobald die Rentenausgaben derart steigen, dass mehr als 24 Prozent der Bruttolohnmasse an Einnahmen nötig wären, würden automatisch und um denselben Faktor die Beiträge erhöht und die Leistungen gesenkt. Was halten Sie davon?
Das könnte eine Diskussionsbasis sein. Robert Kieffers Idee bezieht die Zeitschiene ein. Wenngleich unsere Vorstellungen noch weiter gehen. Für uns wäre eine Diskussionsbasis, wenn man sagt: Wir diskutieren über alle Möglichkeiten. Wir suchen nach einer Mischlösung. Wir reden aber vor allem – wie wir meinen – über die Einnahmen. Da sehen wir mehrere Möglichkeiten: Die Pensionsreserve vielleicht anders einzusetzen, die Beiträge zu erhöhen, die Beitragsbemessungsgrenze aufzuheben, und schließlich neue Einnahmen zu erschließen, die nicht über die Löhne generiert werden.
Der Sozialminister hat angedeutet, die Sozialpartner seien schon dabei, einen „Pakt für die Wirtschaft“ vorzubereiten, der die Basis dafür schaffen soll, dass länger zu arbeiten machbar wird. Wie weit ist der Pakt denn?
Falls der Minister die Arbeitsgruppe „Seniorenbeschäftigung“ im ständigen Beschäftigungsausschuss meint: Die untersteht Arbeitsminister Nicolas Schmit. Sie wurde zusammengerufen, um über Verbesserungen für die über 45-Jährigen zu sprechen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Sozialplänen oder Kollektiventlassungen. Die erste Priorität dieses Gremiums ist es, Wege zu finden, damit die Leute in Arbeit bleiben und nicht arbeitslos werden. Es war ursprünglich nicht beabsichtigt, dass dort über das Pensionswesen verhandelt wird. Die Pensionsreform müsste jedoch, wie gesagt, eng mit der Beschäftigungspolitik verbunden werden.
In den letzten 25 Jahren wurden die Renten im Privatsektor immer weiter erhöht. Nicht zuletzt dank der Gewerkschaften, denen es um eine Angleichung mit den Pensionen im öffentlichen Dienst ging. Ist der OGB-L der Meinung, dass es angemessen ist, dass unser öffentliches System heute eine Rente von bis zu fünf Mal den Mindestlohn staatlich garantiert, obendrein indexiert und alle zwei Jahre an die Lohnentwicklung anpasst?
Das Hauptanliegen des OGB-L ist es, ordentliche Renten zu garantieren, die komptatibel mit der Luxemburger Wirtschaftsleistung sind und es den Menschen im Alter noch erlauben, über eine angemessene Kaufkraft zu verfügen. Man darf nicht vergessen, dass die Pensionierten einen wichtigen Beitrag zu unserer Wirtschaft leisten.