Es war kein Gesetzentwurf mit Artikeln, Kommentaren und Motivenbericht, den Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) und Finanzminister Luc Frieden (CSV) gestern Vormittag dem parlamentarischen Sozialausschuss vorstellten. Auch ein Vorentwurf war es nicht, kein non paper, das noch verfeinert werden soll. Nur die „Leitlinien“ zur Pensionsreform liegen bisher fest.
Das sieht nicht gerade nach viel aus. Immerhin reflektierte 2008 und 2009 eine Tripartite-Arbeitsgruppe über die „langfristige Absicherung des Pensionssystems“, und gegen Ende dieser Übung, zwei Monate vor den Wahlen 2009, schlug die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) mit Di Bartolomeos Duldung in einem Bericht eine Rentenkürzung vor. Anfang 2010 erklärte der Minister öffentlich die Renten der derzeit Aktiven für nicht mehr sicher und kündigte ein halbes Jahr später in einer parlamentarischen Orientierungsdebatte an, dass die Lebensarbeitszeit an die – statistisch steigende – Lebenserwartung geknüpft werde.
Das soll nun auch geschehen. Und zwar in einem Umfang, der für Luxemburg, wo die Renten seit 1987 und bis zum Rentendësch 2001 stets nur erhöht wurden, beachtlich ist: Für eine Rente in derselben Höhe, wie sie heute nach 40 Beitragsjahren gezahlt wird, wird man künftig drei Jahre länger arbeiten müssen. Was quasi einer Verlängerung der Referenz-Beitragskarriere für eine volle Pension um sieben, acht Prozent entspricht. Die Reformidee geht aber noch weiter: Wer sich dafür entschiede, nicht länger zu arbeiten, sondern nach 40 Beitragsjahren pensioniert werden möchte, erhielte im Vergleich zu einer vollen Pension heute nicht sieben bis acht, sondern 15 Prozent weniger ausgezahlt.
Das zu beurteilen, fällt schwer ohne detailliertere Erklärungen: Die schon heute bestehenden Anreize, länger zu arbeiten, sollen gründlich überdacht werden. Fest steht, dass die neue Regelung progressiv eingeführt würde und im vollen Ausmaß nur Jahrgänge beträfe, die derzeit noch keine Beiträge zahlen. Denn die bis zum Inkrafttreten einer Reform schon erworbenen Pensionsrechte sollen nicht angetastet werden – so steht es schon im Regierungsprogramm. Doch ob die geplante Bindung der Lebensarbeitszeit an die Entwicklung der Lebenserwartung längerfristig nicht einfach nur zu einer Pensionskürzung um 15 Prozent führt, sondern tatsächlich zu einer „Pension à la carte“, wie der Sozialminister gestern versprach, steht und fällt mit den Beschäftigungsmöglichkeiten Älterer. Sie zu verbessern, hofft die Regierung mit einem „Wirtschaftspakt“, über den sie mit den Patronatsverbänden „in Arbeitsgruppen“ schon verhandele, teilte Di Bartolomeo gestern mit. Wie gerecht die „Pension à la carte“ wäre, wird überdies davon abhängen, ob sie nicht Geringverdiener benachteiligt, die nachweislich eine kürzere Lebenserwartung haben (d’Land, 7.1.2011).
Zwar plant die Regierung, diesen Teil der Reform auf die „kleinen Renten“, so Di Bartolomeo, nicht anzuwenden und die Grundrente sogar zu erhöhen. Was unter „kleinen Renten“ verstanden werden wird und wie strikt sie von den „großen“ unterschieden werden, bleibt jedoch abzuwarten.
„Das hier tut progressiv ein bisschen weh“, erklärte Mars Di Bartolomeo gestern. Damit wies er auch ungewollt darauf hin, dass der von ihm und Luc Frieden skizzierte Reformansatz bemerkenswerterweise nicht dem gerecht wird, was in den letzten zwei Jahren regierungsoffiziell als Rentenmauer-Szenario angeboten wurde.
Makroökonomisch habe man sich Hypothesen gegeben, die sich „an unseren Erfahrungswerten der vergangenen drei Jahrzehnte“ orientierten, und sie auf die nächsten 30 bis 50 Jahre hochgerechnet, erzählte der Finanzminister gestern der Presse. Das BIP werde im Jahresschnitt um drei Prozent wachsen, die Beschäftigung um 1,5 Prozent. Was weder Frieden noch Di Bartolomeo erwähnten, ist, dass diese Annahmen viel optimitischer sind als die der Generalinspektion der Sozialversicherung in ihrem Bericht an die Tripartite 2009. Dort wurde unterstellt, das BIP wachse längerfristig nur um 2,2 Prozent jährlich, die Beschäftigung nur um ein halbes Prozent – Krisenfolgen nicht einbezogen.
Vielleicht hat es ja auch mit den bevorstehenden Gemeindewahlen zu tun, dass die Regierung sich lieber an die Jahrzehnte erinnert, in denen die Renten immer weiter steigen konnten. Zur Kopplung von Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit kommt als zweiter Reformvorschlag mit unmittelbarer Auswirkung auf die Finanzen nur noch die an einen „Nachhaltigkeitsfaktor“ gebundene Rentenaufbesserung hinzu: Sollte sich abzeichnen, dass die Pensionsausgaben die Einnahmen übersteigen könnten, würde das laut Gesetz alle zwei Jahre fällige Ajustement vielleicht gekürzt, vielleicht zeitlich gestreckt, wie schon dieses Jahr im Rahmen des Sparpakets der Regierung.
Aber andererseits hat weder CSV noch LSAP ein starkes Mandat vom Wähler für eine Radikalkur in einem so sensiblen Bereich wie dem Pensionswesen. 2009, in ihren Wahprogrammen, gingen beide Parteien lediglich so weit, künftig „40 tatsächliche Beitragsjahre zur Regel“ machen zu wollen. Dass davon schon im Koalitionsvertrag keine Rede mehr war und heute erklärt wird, es werde selbstverständlich nicht an die Baby-Jahre als Beitragsersatz gerührt und die Anrechnung der Ausbildungszeiten lediglich an die „reellen Studienzeiten“ angepasst, illustriert, auf welch gefährlichem Terrain die Koalitionäre sich bewegen.
Doch es könnte durchaus sein, dass die Reformideen strukturelle Elemente enthalten, die bei Bedarf noch anders angewandt werden könnten, als die beiden Minister gestern erläuterten: Die Lebensarbeitszeit überhaupt erst einmal von der Lebenserwartung abhängig zu machen und desgleichen das Ajustement von der Ausgabenentwicklung, ist möglicherweise entscheidender als die für eine Vollrente konkret mehr zu absolvierenden Beitragsjahre – die Rentenpolitik könnte in Zukunft als Regelkreis funktionieren.
Und so ist es vielleicht mehr als nur ein Vorschlag zur Güte, was Frieden und Di Bartolomeo gestern im Parlament vorstellten und kommende Woche den Sozialpartnern präsentieren wollen. Dass die Leitlinien alle beteiligten ein wenig dort abholen sollen, wo sie stehen, ist aber ebenfalls unverkennbar: Für die Gewerkschaften, die eigentlich einen Reformbedarf nur auf der Einnahmenseite erkennen, enthält der Vorschlag ein wenig pilotage à vue. Für die Arbeitgeber, die vor allem Beitragserhöhungen ablehnen, war gestern schon mal die Erklärung des Finanzministers gedacht, in den nächsten zehn Jahren würden die Beiträge garantiert nicht erhöht.
Und die Oppositionsparteien? Vor allem als Briefing für sie diente die Sitzung des parlamentarischen Sozialausschusses gestern, denn die Fraktionen von CSV und LSAP kennen die Reformagenda schon und haben ihr bereits im großen und ganzen zugstimmt. Doch vor vier Wochen hat sich sogar die ehemalige Rentenpartei ADR dafür ausgesprochen, das Alter, ab dem eine Frühverrentung möglich ist, schrittweise anzuheben und das Ajustement nur noch für kleine Renten voll auszuzahlen. Da ist ein Versuch, die Pensionsreform gegen CSV und LSAP zu benutzen, am ehesten noch von den Grünen zu erwarten, die seit Jahren dafür plädieren, dass eine öffentlich garantierte Grundrente definiert werden sollte.
Doch ob die Grünen es in Kauf nehmen, vor den Gemeindewahlen als „ökoliberale“ Rentendemontierer zu erscheinen, und als dem Patronat nahestehend, dessen Verbänden die Reformansätze vermutlich nicht weit genug gehen werden, fragt sich noch. Weil die DP es überdies seit Jahren vorzieht, zum Rententhema nichts Weitreichendes mehr zu sagen, sind Inhalt und Timing der Reform-Leitlinien auch ein gekonnter Versuch der Regierung, dafür zu sorgen, dass ihre Kritiker einander neutralisieren. Vielleicht gelangt der Gesetzentwurf zur Reform wirklich vor den Sommerferien ins Parlament.