Immer wieder überrascht das Kasemattentheater durch Produktionen, die den Nerv der Zeit treffen. Mal mit Lesungen, die einem moralischen Aufschrei gleichkommen, wie zuletzt Fake!, ein Kommentar zum aufpeppenden Populismus, mal mit wahrlich Experimentellem wie Der himmelblaue Herr (Fanny Sorgo).
Die Ankunft von Flüchtlingen wurde auf der kleinen Bühne in Bonneweg mit Death Journey schon Anfang 2016 thematisiert. Darin zeichnete die Irakerin Hind Al-Harby Stationen ihrer Flucht nach Luxemburg nach. In Tagen, in denen in Europa über Auffanglager debattiert wird und der Ruf „Schließt die Grenzen, mir wird es zu viel“ sogar aus den Reihen der Linken (Sahra Wagenknecht) ertönt, kommt Your very own double crisis club gerade recht. Das Stück richtet den Blick auf eine Kriegssituation, reißt den Zuschauer aus seiner Wohlstandsblase – wenngleich nur für einen kurzen, aber schmerzhaften Moment.
Ein namenloses „Wir“ spricht ins Publikum und erzählt von Gewalt, ruft ekelhafte Kriegsbilder vor Augen. Das „Wir“ mit einer Fluchtgeschichte prallt auf das eingesessene „Ihr“ einer Gesellschaft, die sich behaglich am Schauspiel ergötzt. „Wir haben Hunger, wir sind hässlich und verbittert und nackt, und wir widern euch an. Das ist uns klar. Zwischen den Hausdächern springen wir wie Käfer durch die Luft ...“ Leger lehnt Desirée Nosbusch dabei mit einem breitkrempigen Hut an einer Wand und schneidet einen Apfel. Irgendwann wird sie einen ausgestopften Hirsch an seinem Geweih auf die Bühne ziehen und André Mergenthaler am Cello synchron in das Klagelied einfallen. „Auch wenn du dachtest, du könntest fliehen, wirst du immer in ihr zurückbleiben.“
Das Bühnenbild ist schlicht, nur eine Tür mit der Leuchtschrift „Paradise“ verweist auf den Ausgang ins Jenseits. Nosbusch wird ihren irre umherschweifenden Blick ans Publikum richten und die zersetzende Prosa der israelischen Autorin Sivan Ben Yishai förmlich ausspeien: „Wischt eure Tränen weg. Steckt die Hände in die Unterwäsche und riecht daran. Spürt die Vergänglichkeit der Wärme!“
Nackte Menschen bewegen sich in einer namenlosen Stadt. Ein Kopf prallt an die Tür eines Streifenwagens; und die Menschen wimmeln gaffend durch die zerstörten Straßen: eine klaffende Wunde, gleich einer zerstörten Vulva im Mutterleib. Die Metaphorik Ben Yishais (aus dem Englischen übersetzt von Henning Bochert) ist hart, bisweilen vulgär. Die Schwänze junger Männer und die Hybris der Machthaber und Kriegstreiber verschmelzen zu einem einzigen Phallus: Metapher für die männliche Geltungssucht. Ein Statement, wenngleich etwas zu bedeutungsschwer, wenn es etwa heißt: „der Schwanz des Dalai Lamas und Nietzsches vertrockneter Schwanz“.
Mergenthalers Musik geht einem durch Mark und Bein. Schelmisch blickt er mal Nosbusch, mal sein Instrument an und improvisiert an den Saiten seines Cellos stets die passende Melodie: „Maykäfer flieg! Dein Vater ist im Krieg. Deine Mutter ist im Pommerland. Und Pommerland ist abgebrannt.“
Das Stück zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der die verkommene Menschheit sich am Leid des Nächsten ergötzt; die Menschen in der Kriegssituation zurückgeworfen auf ihre Urtriebe. Die Zuschauer laben sich an dem Leid. Bevor das Ganze in wohlfeile Bestätigung abzugleiten droht, wendet Nosbusch sich wieder dem Publikum zu. Hier habt ihr sie, „eure wohl verdiente Migrantenpoesie!“, um sogleich weitere Alptraumszenen zu servieren: drei Männer vergewaltigen ein zwölfjähriges Kind, Kinder werden ausgeschickt, um Minen aufzuspüren und irren auf den Minenfeldern umher. „Wie lange lebt ein Embryo noch, wenn die Mutter schon tot ist?“ Nosbusch mimt minutiös die dem Irrsinn nahen Kinder und schafft es durch ihre Nuancen mitzureißen – weit entfernt von der abgezockten Bankerin, die ihr seit Bad Banks anhaftet.
Am Ende wird sie sich einen weißen Brautschleier aufsetzen und wie ein unschuldiges Mädchen auf die Trümmer ihrer Stadt blicken. Wenn sie und der Musiker Mergenthaler durch die Tür schreiten in Richtung Paradies, ist das Ende zwar etwas pathetisch, doch hinterlässt der Abend Spuren der Verstörung. Die Musik spielt weiter. Die morbiden Töne hallen auf der leeren Bühne nach.