Zugegeben: Eine Magisterarbeit zu schreiben ist eine undankbare Aufgabe. Man verbringt ein halbes Jahr damit, sich bis zur Ermattung durch Stapel von Fachpublikationen zu lesen und sich die Finger wund zu tippen – und das Konvolut, das man am Ende in den Händen hält, wird dann höchstens vom Betreuer (wenn man Glück hat) oder seinem Assistenten gelesen, verstaubt noch ein paar Jahre in den Archiven der Universität und geht anschließend den Weg alles Endlichen. Zur Veröffentlichung sind Magisterarbeiten prinzipiell nicht bestimmt. Das mag frustrierend erscheinen, kann jedoch im Endeffekt durchaus zum Schutz des Absolventen dienen.
Der Sinn einer Magisterarbeit liegt darin zu überprüfen, ob der Absolvent dazu in der Lage ist, sein Thema wissenschaftlich zu erschließen. Kriterien einer solchen Überprüfung bestehen zum Beispiel in der sinnvollen Eingrenzung des Themas, der Prägnanz und Relevanz der Fragestellung, der kritischen Auseinandersetzung mit Forschungsmeinungen und der nachvollziehbaren Positionierung in einem wissenschaftlichen Diskurs. Wenn eine Arbeit keines dieser Kriterien erfüllt, ist sie eine schlechte Magisterarbeit. Die nun als Buch vorliegende Magisterarbeit von Fernand Guelf erfüllt keines dieser Kriterien. Man muss sich eigentlich darüber wundern, dass sie überhaupt von einer Fakultät angenommen wurde.
Guelfs Vorhaben besteht offenbar in einer philosophisch geprägten, „geistigen Auseinandersetzung mit der Stadt“ (siehe Einleitung, S. 9). Was genau er damit im Blick hat, unter welchem spezifischen Aspekt er sich mit diesem völlig uferlosen Thema befassen will, bleibt unklar. Guelf entwickelt keine Problemstellungen und äußert sich auch nicht zu methodischen Vorentscheidungen. Außerdem ist er an einer zeitlichen Eingrenzung seines Themas nicht interessiert: Der Titel zeigt eine Zeitspanne Von der Polis zur Cyberstadt an, was auch bei einer klareren Fragestellung im Rahmen einer Magisterarbeit schlicht zuviel gewesen wäre. Zwar nimmt Guelf eine Auswahl von „exemplarischen“ Texten vor, hält eine Rechtfertigung oder Einordnung dieser Auswahl jedoch offenbar für überflüssig. Übergangslos springt er von Platon und Aristoteles zu Rousseau und von Rousseau zu Nietzsche, vermischt Fragen der Städteplanung mit Konzeptionen von Idealstaaten, trennt nur unscharf zwischen der Stadt als Gemeinschaft von Einwohner und der Stadt als bewohnbarer Infrastruktur – und schwankt insgesamt so stark zwischen politischer Philosophie, Literatur und Kulturtheorie, dass nicht deutlich werden kann, wofür die ausgewählten Texte eigentlich exemplarisch stehen sollen.
Wie es um den wissenschaftlichen Anspruch des Buches bestellt ist, lässt sich schon nach wenigen Seiten ausmachen. Guelf zitiert am Anfang seiner Einleitung eine Stelle aus Platons Phaidros, vergisst jedoch, den Namen des Übersetzers zu nennen, versieht das Zitat mit einer unkorrekten Stellenangabe und schreibt es zu allem Überfluss auch noch falsch ab. Leider ist das keine traurige Ausnahme. Die Nomoi werden nach einer Internetseite zitiert, die „textlog.de“ heißt; es fehlen allerdings die vollständige URL und die Angabe eines Datums. Wer sich die Mühe macht, sich auf „textlog.de“ bis zu den Nomoi durchzuklicken, erhält folgende Mitteilung: „Aus rechtlichen Gründen zur Zeit leider nicht verfügbar!1“ Wenn dann auch noch die einzige aktuelle Sekundärliteratur, die Guelf für sein Platon-Kapitel verwendet, ein einziger Aufsatz von Otfried Höffe ist (Guelf nennt ihn„Ottfried“), darf man berechtigte Zweifel an der Fundiertheit von Aussagen anmelden, die dann so lauten: „Platons Beschreibung der Polis überzeugt nur an wenigen Stellen.“ (S. 23).
Solche naiven Werturteile wirkten vielleicht weniger anmaßend, wenn Guelf sich wenigstens die Mühe machen würde, sie zu begründen. Nach überzeugenden oder überhaupt nur gründlichen oder schlüssigen Argumentationen sucht man in Stadtluft macht frei jedoch vergeblich. Guelf füllt die meisten Seiten seines Buches blockweise mit unkommentierten Direktzitaten und Paraphrasen der Texte, auf die er sich beruft. Seine Verweise auf oft hoffnungslos veraltete Forschungsliteratur lesen sich oft wie bloße Lektüreempfehlungen („Siehe dazu:“ usw.), aus denen nicht ersichtlich wird, in welchem Verhältnis sie zum Haupttext stehen. Bedeutet die Erwähnung solcher Schriften, dass Guelf sie gelesen hat? Dass er ihnen zustimmt? Oder nur, dass es sie gibt? Manchmal bleibt die Quellenangabe auch einfach aus. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand findet jedenfalls nicht statt.
Idealerweise qualifiziert sich der Absolvent eines Magisterstudiengangs mit seiner Abschlussarbeit für weitere Forschungsvorhaben. Er tut das sogar, wenn er eine wenig glanzvolle Arbeit abgeliefert hat –; dem Titel des „Magister Artium“ sieht man schließlich nicht an, mit welcher Note er erworben wurde. Die Idee, eine schlechte Magisterarbeit – statt sie im Lebenslauf anzuführen und ansonsten im hintersten Regal verschwinden zu lassen – drucken zu lassen und als seriöse Forschungsliteratur auszugeben, ist – um das mindeste zu sagen – äußerst wenig ratsam. Fernand Guelf hat sich mit dieser Veröffentlichung keinen Gefallen getan.
Fernand Mathias Guelf: Stadtluft macht frei. Von der Polis zur Cyberstadt. Philosophische Auseinandersetzungen. Peter Lang – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2009