Es ist Sonntag, „außer Ihnen und mir sind heute Nachmittag alle in dieser Bretterbude, die sie Kirche nennen“, erklärt Ian. Deshalb ist er ganz alleine im Haus mit der jungen Regina, der Nichte des Plantagenbesitzers Edward Broderick. Sie seien keineswegs allein, findet sie. „Die Schwarzen sind da.“ „Die Schwarzen zählen nicht. Schwarze sind wie Möbel.“
In seinem ersten Theaterstück Süden, das 1953 im Pariser Théâtre de l’Athénée von Jean Mercure uraugeführt wurde, beschreibt der franko-amerikanische Schriftsteller Julien Green (1900-1998) die Loyalitätskonflikte eines Familien- und Freundeskreises am Vorabend des Sezessionskrieges. Wir schreiben den Abend des 11. April 1861, Ian Wiczewski ist ein Offizier der Armee von polnischer Abstammung und besucht an seinem Ferientag seinen Freund Edward Broderick auf seiner Plantage bei Charleston, Südkarolina. Broderick ist Witwer, hat jedoch eine Tochter, Angelina (15), einen Sohn, Jimmy, der noch ein Kind ist, eine Schwester, die strenge Evelina Strong, und beherbergt seine Nichte Regina – sowie Sklaven in Hundertschaften (alleine Evelina besitzt deren 300 und will sie sich von keinem nehmen lassen). In Greens Text sind neun Nebenrollen vorgesehen, allesamt Bedienstete, wie „Uncle John“, und „Negermädchen“ und „Negerjunge“ und seine Regieanweisungen erinnern eher an Flemings Vom Winde verweht, mit Vivien Leigh als Dramaqueen Scarlett O’Hara. In seiner Version streicht Thierry Mousset alle Nebenfiguren und reduziert das Stück auf das Wesentliche: Wer hält zu wem? Wie positionieren sich der Offizier Ian und die Nordstaatlerin Regina zur Sklaverei und zur Kirche? Denn „wenn alle Welt sagt, dass es Krieg gibt, dann wird er schon ausbrechen“.
Doch die großen geopolitischen und identitätsstiftenden Ereignisse vor der Tür sind nichts im Vergleich zu den wirklichen Katastrophen, die Regina und ihre Kusine umtreiben: Beide leiden unter unerwiderter Liebe, Regina liebt und hasst zugleich Ian, diesen Immigranten „mit [seiner] europäischen Ironie“ und Angelina ist dermaßen in Erik Mac Lure, den unglaublich gutaussehenden Sohn eines befreundeten Plantagenbesitzers, verliebt, dass sie davon träumt, sich seine fiktiven Liebesbriefe über die Brüste zu reiben. „Für mich ist Liebe Blödsinn“, findet dagegen Jimmy, der nur sein Pferd liebt – und manchmal die Sklaven schlägt, wofür er gezüchtigt werden muss, da sein Vater sich des nahenden Endes der Sklaverei bewusst ist.
In seinem Stück beschreibt Julien Green eine erzkonservative Gesellschaft an der Schwelle zu einer Modernisierung, die Allen Angst macht. Er erfindet Figuren, die zweifeln, wie er: an ihrer Identität, an ihrem Glauben, an der Familie und der Liebe. Thierry Mousset nutzt die Vorlage um über diese zeitlosen Themen zu reflektieren. Deshalb hat er mit Bühnenbildnerin Marie-Luce Theis ein Podest vor die Zuschauerränge gestellt, auf dem die Figuren aufeinandertreffen wie in einem Boxring. Daneben genügen ein Paar Plastikstühle, ein Grill, eine Glocke, Pflastersteine, eine Wand, das Licht und Kleider aus dem Second-Hand-Laden um eine Stimmung zu schaffen. Alle Schauspieler und Schauspielerinnen sind die zwei Stunden des Stückes auf der Bühne und schauen zu, wie sich die jungen Menschen winden und winden, wie Sehnsucht und Wollust sich abwechseln, wie sich die Gegensätze anziehen und wieder abstoßen.
Süden bietet vor allem ganz großes Schauspielertheater. Das gelingt ihm dank einer außergewöhnlichen Besetzung: Heike Droste ist zugleich eine aufmüpfige freche Göre und eine gepeinigte, da unerwidert Liebende, die jedoch nie ihre Fassung verliert. Die Wucht ihrer Auftritte, besonders gegenüber Ian, die Anspannung ihres ganzen Körpers zeugen von großer Beherrschung. Anna Griesebach lässt den großen Altersunterschied zu ihrer Figur Angelina ganz vergessen, wenn sie verspielt über den Boden rollt und von ihren Kleider- und Männerträumen erzählt. Cornelius Schwalm lässt die Unsicherheiten des Vaters nur andeutungsweise durchblicken, wenn er im eng anliegenden roten Rollkragenpulli und der Reiterhose die Grillzange am Weber-Grill schwingt oder sich zuweilen auch mal vor Scham auf den Rücken fallen lässt. Der Offizier, den Andreas Lust gibt, versteckt nur mühsam seine Gefühle und Zweifel unter seiner Uniform. Und Luc Schiltz zeigt erneut, dass er weit mehr draufhat, als besorgt als „Inspekter Capitani“ über ein Lenkrad zu schauen: mit Stepptanzschuhen ist er Jimmys Pferd, zieht er sie aus und spuckt mal auf die Bühne, wird er Mac Clure. Nur Catherine Jankes Wandlung als gestrenge Tante Evelina, die anfangs im Rollstuhl rumnörgelt und am Ende hysterisch rumtanzt, ist nicht zu verstehen. Und es ist auch nicht wirklich ersichtlich, warum Jimmy mit einem des Deutschen nicht mächtigen Schauspieler besetzt wurde – obwohl Dennis Jousselin als über Sechzigjähriger die Körperlichkeit des Jungen durchaus überzeugend hinkriegt, stört seine unsichere, phonetische Diktion schon erheblich.
Julien Green, der sich selbst als „Sohn des Südens“ definierte – seine Mutter war aus den Südstaaten und ihre Erzählungen prägten seine Melancholie – nannte das Stück „eine Tragödie der Liebe“. Jeder, der Jugendliche beobachtet, weiß dass für einen jungen Menschen kein Weltgeschehen so wichtig ist wie die ersten Liebesgefühle, kein Krieg so tragisch wie unerwiderte Liebe. Diese Unsicherheit, diese Stimmung vermittelt Thierry Moussets Inszenierung unmittelbar. Abschaffung der Sklaverei hin oder her – am Ende will man bloß wissen: kriegen sie sich?