Ovale Formen, bunte Spiralen, kryptische Muster, abgebildet auf Leinwänden teilweise so groß wie Scheunentore – das konnten 2018 die Besucher einer Retrospektive im New Yorker Guggenheim-Museum sehen. Mit 600 000 Eintritten verbuchte das Guggenheim damals gar einen Rekord. Dabei sind die abstrakten Gemälde der schwedischen Künstlerin af Klint (1862-1944) vor mehr als hundert Jahren entstanden. Aber wie der Titel der Ausstellung andeutete, Hilma af Klint. Paintings for the Future, war ihr Zielpublikum nicht ihre Zeitgenossen.
Durch ihre klassische Ausbildung an der Königlichen Akademie der freien Künste in Stockholm hätte Hilma af Klint eigentlich zu einer angepassten Künstlerin heranreifen können. Es kam anders – nach dem Studium bricht sie mit dem damals gängigen Kunstverständnis. Sie frequentiert spiritistische Frauenkreise, dabei verfestigt sich ihre anti-materialistische Haltung: Sie will „das Geistige“ erkunden; sie wendet sich von den Dingen ab und beginnt zusehends, das Nicht-Gegenständliche abzubilden. Den Werde- und Schaffensgang von af Klint hat Julia Voss in ihrer Biografie Hilma af Klint – Die Menschheit in Erstaunen versetzen nachgezeichnet.
Af Klint nahm seit ihrem 17. Lebensjahr an diesen Séancen teil. Die Frauen traten dort mit Verstorbenen oder mit Geistern in Kontakt. Auch af Klint unterhält Geisterfreundschaften und gibt an, Botschaften und künstlerische Empfehlungen von Geistern zu empfangen, die sich unter anderem Esther, Amaliel und Ananda nennen. Soziologisch drängt sich auf, die Séancen als weibliches Selbstermächtigungsprogramm abzuhaken; Psychologen mögen nach pathologischen Mustern suchen, doch die Autorin Voss verwehrt sich, den schöpferischen Quellen ihrer Protagonistin eine Erklärung aufzudrücken.
Mit zunehmendem Alter wendet sich af Klint verstärkt der Anthroposophie zu, wird offizielles Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft und fährt insgesamt neunmal ins schweizerische Dornach ans Goetheanum, das Zentrum der Anthroposophie. Dort trifft sie auch Rudolf Steiner. Das Gespräch mit dem Anthroposophie-Begründer fand sie allerdings ernüchternd, seine Kommentare nicht besonders bereichernd. Auch die Leitung am Goetheanum verhilft ihrer Kunst nicht zu mehr Sichtbarkeit. Wohlgesinnter ist die Anthroposophische Gesellschaft in Schweden, die in ihren Räumlichkeiten af Klints Werk aufbewahren wird.
Denn tatsächlich fasst af Klint kurze Zeit vor ihrem Tod den Entschluss, ihre Werke für die Zukunft zu verstauen. Ihre Zeitgenossen seien nicht offen für ihr Schaffen, künftige Generationen aber würden es sein, urteilt sie. In einem Katalog hält sie fest, welche Gemälde in welchem Jahr der Öffentlichkeit nach ihrem Tod gezeigt werden sollen. Der verwaltende Erbe ist ihr Neffe Erik af Klint.
In der Vorkriegszeit waren spiritistische Séancen, Theosophie und Anthroposophie zwar keine hegemonialen Strömungen, dennoch gab es Berührungspunkte zwischen Okkultismus, Wissenschaft und Kunst. Die Erfindung der Glühlampe, die Entdeckung der Teilbarkeit der Atome, die Handhabung von Röntgenstrahlen regten die Machbarkeitsfantasie an: In der New York Times verkündet Thomas Edison, eines Tages werde ein von ihm konzipiertes „spirit phone“ bereitstehen, mit dem man Tote anrufen könne. Das Jenseits war plötzlich nicht mehr unerreichbar, es war lediglich das noch unsichtbare Diesseits. Auch Wassili Kandinsky verkehrte in theosophischen Kreisen.
Gemeinhin wurde die Geburtsstunde der gegenstandlosen Kunst mit Kandinsky verknüpft, der sich gekonnt als ihr Schöpfer inszenierte. Derzeit ist allerdings die Geschichtsschreibung ins Wanken gekommen: Kunsthistoriker/innen wühlen in Archiven, um die Arbeit abstrakt malender Künstlerinnen des späten 19 Jahrhunderts zu rekonstruieren, wie die von Camilla Dufour Crosland, Emma Kunz, Georgiana Houghton und Hilma af Klint.
Allerdings waren nicht alle Bilder af Klints vollkommen ungegenständlich. In einigen Bildern deuten sich beispielsweise Rosenblüten und sexuelle Anspielungen an, wie Eierstöcke und Spermien. Für die Autorin Voss betrat af Klint auch auf diesem Gebiet „ästhetisch und thematisch Neuland“. Sie habe ihren eigenen Kosmos hervorgebracht: „Nichts davon hat es schon in der Malerei gegeben, weder ihre gegenständlichen Erfindungen noch ihre ungegenständlichen“ (S. 252).
Durch Aufzeichnungen ist bekannt, dass sie eine genderfluide Auffassung von Geschlecht vertrat. Außerdem heiratete sie nicht; lebte innige Freundschaften mit Frauen, die gelegentlich zu Liebschaften heranreiften.
Obwohl die Künstlerin notiert, ihre Bilder würden auf Eingebungen zurückgehen, malt af Klint nicht intuitiv, wie Voss darlegt; sie plant ihre Arbeit, legt systematisch Skizzen an. Auch nimmt sie Bezug auf Debatten in der Kunstwelt und den Naturwissenschaften. Besonders Ernst Haeckels Entwicklungstheorie greift sie in einer Gemälde-Serie auf, die sie „Evolutionsbilder“ nennt – ganz nach dem Zeitgeist der Jahrhundertwende.
Als Defizit ist zu vermerken, dass die Biografie von Voss das Aufkommen der abstrakten Kunst nicht in einen größeren zeithistorischen Kontext einbettet. Untersuchungen der Kunsthistoriker Marty Bax und Raphael Rosenberg etwa verweisen auf den ideengeschichtlichen Hintergrund, der der abstrakten Malerei zu Grunde liegt: Im 19. Jahrhundert wird an Kunst der Anspruch gestellt, beim Betrachter innere Bilder zu generieren. Dafür seien abstrakte Bilder die geeignetsten Impulsgeber. Das Format der Biografie, das Julia Voss benutzt, begnügt sich teilweise damit, das Aufkommen der abstrakten Kunst in das Korsett eines als isoliert stilisierten Ursprungs zu quetschen.
Dennoch ist die Lektüre dieser Biografie anregend– sowohl für Kunstinteressierte als auch für Historiker und Religionswissenschaftler. Die turbulente Lebensgeschichte dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit bringt dem Leser die sozialen, politischen und ästhetischen Standards einer Epoche nahe, die ihm erfahrungsmäß verschlüsselt bleibt. Ein über hundertseitiger Anhang verweist auf die akribische Rechercheleistung von Julia Voss. Das Buch richtet sich trotzdem nicht an ein akademisches Nischenpublikum – Voss’ Schreibduktus ist an dem des populären, aber soliden Sachbuchs orientiert.