Am Ende der 77. Venediger Mostra bestand unter den PressevertreterInnen Konsens: Mit der Entscheidung den Leone d‘oro an Chloé Zhao für Nomadland zu überreichen, hat die Jury eine würdige Wahl getroffen.
Doch auch abseits des Hauptwettbewerbs gab es interessante Beiträge. Der Orizzonti-Wettbewerb – der dieses Jahr 19 Spielfilme zählte – bringt laut Auswahlkomitee Werke zusammen, die internationale Trends in Sachen Expressivität und Ästhetik verbinden. Das klingt zunächst nach schlimmem Kunstgewerbe. Und ja, solches Gewerbe war anzufinden. Aber eigentlich bedeutet es: Weltkino mit dem Anspruch, formale wie dramaturgische Spielwiesen zu sein.
Dazu gehört auch das iranische Kino, das seit langem willkommenes Festivalfutter ist. Mohammad Rasoulof wurde bereits in diesem Jahr der Goldene Bär in Berlin verliehen, und auch am Lido manifestierte sich die Liebe gegenüber den Iranern. Sun Children von Majid Majidi wurde im Wettbewerb ausgezeichnet und Ahmad Bahrami durfte sich über den Orizzonti Award für den besten Film freuen. Sein elegisches Debüt The Wasteland, das schon am ersten Festivalabend vorgestellt wurde, erzählt von einer bankrotten Ziegelfabrik in der iranischen Provinz aus der Perspektive eines karg-staubigen Mikrokosmos von Arbeiterfamilien. Bahrami und sein Kameramann halten den Stillstand der Fabrik und die Sackgasse, in die sich die Menschen um die Fabrik mehr oder weniger gewollt manövriert haben, in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern fest, mit zum Teil grandiosen Kamerafahrten. Die Entschleunigung der mise en scène, die den Meistern Béla Tarr und Abbas Kiarostami nicht unähnlich ist, versucht jedoch einer repetitiven Didaktik im Drehbuch entgegenzuwirken. Der Film riskiert ständig wie ein poröser Lehmziegel auseinanderzubrechen und findet dennoch ein starkes Ende, was für gute Regiearbeit spricht.
Genau umgedreht verhällt es sich mit I predatori von Pietro Castellitto. Castellitto ist alles andere als ein spannender Regisseur, sein Drehbuch wusste dennoch die Jury um Claire Denis und Co. zu überzeugen. Im Film – in dem das Wort cazzo mindestens so oft fällt wie fuck in einem Tarantino-Film – zeichnet Castellitto das Porträt zweier römischer Familien. Eine bürgerliche Familie mit Regisseurin und Arzt an der Spitze und eine proletarische Familie mit Waffenhändlern und einer faschistoiden Affinität für Mussolini. Wie in einem film choral lässt der Autor die Familien auf einen unumgänglichen Clash zulaufen. Castellittos Botschaft über Italien und Familiendynamiken hält sich für tiefsinnger, als sie tatsächlich ist, aber die Dialoge im Film sind spritzig und die Situationen oftmals trocken, sodass I predatori ganz klar aus der Masse der eher schwachen italienischen Beiträge heraustritt. I‘m looking at you Francesco Rosi, der mit seiner Aneinanderreihung von Bildschirmschonern in Notturno die Menschen im kriegszerstörten Nahen Osten zum Thema macht und grandios scheitert.
Die Schauspielpreise gingen währenddessen an Leistungen in eher durchwachsenen Filmen. Wim Delvoyes Beziehung zu der Mudam Direktorin Suzanne Cotter wäre Stoff für einen Spielfilm, es ist aber die Geschichte hinter dem Kunstwerk TIM, das der Regisseur mit der Geschichte eines syrischen Flüchtlings verbindet. The Man Who Sold His Skin ist ein pädagogischer Film, der Fragen zu Mensch-als-Ware stellt, die jedoch allesamt beantwortet werden. Leider.
Nach dieser tunesisch-europäischen Koproduktion wurde dann auch eine marrokanisch-europäische Produktion ausgezeichnet. Zanka Contact will sich als eine von Leidenschaft durchzogenen Liebesgeschichte verstehen, in dessen Mitte eine Prostituierte und ein abgewrackter Rock‘n‘roller stehen. Der Regisseur liebt Casablanca, marrokanischen Rock, Western-Filme und die Liebe. Er scheitert aber daran, diese Liebe authentisch und, ja, liebevoll in Form zu bringen. Beide Schauspieler – Khansa Batma in Zanka Contact und Yahya Mahayni im Man Who Sold His Skin – werden nicht wirklich spannend geführt, tragen aber mit einer naiven Energie diese Filme, die ansonsten nichts weiter künstlerisch hergeben als das, was auf der Oberfläche der Filmrolle zu sehen ist.
Ana Sousa de Rochas knapp 70-minütiger Erstlingsfilm Listen hat nicht nur den Jurypreis in Orizzonti gewonnen, sondern auch den Lion of the Future für das beste Debüt. Wenn ein Film von dieser vorhin genannten naiven Energie lebt – nicht nur die Schauspieler, sondern auch das Drehbuch und die Regie – dann ist es dieser Film. Es geht um eine portugiesische Familie die in durchaus prekären Verhältnissen ihr Leben in London zu meistern versucht. Eines Tages steht jedoch das Sozialamt vor der Tür und nimmt die drei Kinder mit. Mutter und Vater versuchen mit allen Mitteln, die Kinder zurückzubekommen und die skandalöse Praktik der forcierten Adoptionen zu verhindern. Listen schraubt in seinen 70 Minuten das Drehbuch auf das Allerwichtigste herunter. Wieso sich in Details verlieren, wenn die Eltern berechtigterweise im Tunnelblick die Kinder im Auge haben. Inszenatorisch und dramaturgisch lebt der Film von diesem gleichen Blick, stößt aber aus Mangel an Erfahrung und der handwerklichen Finesse manchmal an an seine Grenzen. So rein manche Situationen wirken, so geschrieben hölzern wirken andere. Ken Loachs Militantismus durfte die letzten Jahre berechtigterweise kritisiert werden, aber seine Sensibilität mit seinen Laiendarstellern ist unumstritten. Und diese Sensibilität ist und bleibt Resultat eines jahrzehntelangem Handwerk.
Listen ist also genau das, was Orizzonti stark macht. Eine Spielwiese, auf der auch unnötiges Unkraut wächst, aber ebenso erste Bauschritte gemacht werden. Ana Sousa de Rochas und Ahmad Bahrami erste Schritte geben auf sehr unterschiedliche Weisen Lust auf mehr.