Allen war am vergangenem Donnerstag auf dem Weg aus den gekühlten Kinos in die glühende venezianische Septembersonne klar: Nomadland von Chloé Zhao würde den Goldenen Löwen – die höchste Auszeichnung bei den Filmfestspielen in Venedig – mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit gewinnen.
Chloé Zhao ist Filmfreunden nicht unbekannt. 2018 inszenierte sie mit Film The Rider einen der Filme des Jahres. Und ehe sie Anfang des nächsten Jahres mit einem hochbudgetierten Marvel Superheldenfilm auflauert, durfte sie am Lido einen Film präsentieren, der mit seinem Leone d‘oro zu einem frühen Oscar-Kandidaten eingestuft wurde.
Egal wie Marvels Eternals in einigen Monaten ausschauen wird, der Quantensprung in der Zhao‘schen Methode, Filme zu machen, wird nicht zu übersehen sein. Diese Methode hat bisweilen vorgesehen, dass die Regisseurin mit Laiendarstellern Geschichten aus der tiefen Provinz der Vereinigten Staaten erzählt. Geschichten von Aussenseitern und sogenannten Verlierern des amerikanisches Traumes. Und Laien, die ihre eigenen Geschichten vor der Kamera spielen.
Das ist bei Nomadland nicht anders. Was sich jedoch bei diesem Spielfilm ändert: Mit Frances McDormand im Casting wird diese Methode ein erstes Mal derartig auf die Probe gestellt wie noch nie zuvor. Die Entscheidung, gerade diesen Hollywoodstern mit echtem amerikanischen Nomadenvolk zusammenzubringen, erweist sich jedoch als Glückstreffer.
McDormand verkörpert die Figur Fern, die ihr halbes Leben lang an der Seite ihres Mannes in der amerikanischen Pampa gelebt hat. Nach dessen Ableben und der Finanzkrise musste die Fabrik, in der beide gearbeitet habe, dicht machen und die Angestellten die Stadt verlassen. Fern sei nicht homeless, sondern houseless. „Home is just a word“, sagt sie in einer Schlüsselszene. Sie packt ihre Sachen in ihren Transportwagen – liebevoll „Van-guard“ genannt und macht sich auf den Weg ins Unbekannte.
Chloé Zhao zeichnet ein Porträt der Vereinigten Staaten, das man nicht mehr allzu oft im amerikanischen Kino zu sehen bekommt. Es ist ihr Sinn für Casting und die Arbeit mit den Schauspieler/innen – die Frage von Laien und Nicht-Laien stellt sich im Endeffekt nicht –, die aus Fern, Linda May, Bob und Swankie die Figuren machen, die sie sind. Vehikel für einen humanistischen Gestus gegenüber einem Amerika, das seine prekäre Existenz, irgendwie zu meistern weiß. Zhao verurteilt nie, dass am Anfang des Nomadenlebens dann doch öfters wirtschaftliche Gründe stehen. Sie drückt kein Narrativ auf und lässt lieber schon fast dokumentarisch die inneren Gedichte – wortwörtlich wie im übertragenen Sinne – zum Vorschein kommen.
Der einzige Wermutstropfen liegt in den Klavierklängen von Ludovico Einaudi, die dem Film eine rührselige Note verleihen, die er eigentlich gar nicht braucht. Auch wenn McDormand irgendwann mehr Zeit mit David Strahairn verbringt, wünscht man sich nur, dass sie schnellstens wieder mit den Nomaden am Lagerfeuer sitzt.
Chloé Zhao ist erst die fünfte Regisseurin nach Margharete Von Trotta, Agnès Varda, Mira Nair und Sofia Coppola, die am Lido den Leone d‘oro eingeheimst hat. Zum Vergleich: Bei den Kollegen an der Croisette sieht es weitaus düsterer aus. In Cannes hat bis dato lediglich Jane Campion für The Piano die Goldene Palme gewonnen. Und auch sie nur ex aequo mit einem anderen Regisseur.
Der Blick auf den Rest des Palmarès zeigt, dass die von Cate Blanchett präsidierte Jury dieses Jahr eigentlich keine Wahl hatte, die Preise anders zu verteilen. Überraschungen gab es keine. Und falls doch, dann schlechte Überraschungen. Denn Kiyoshi Kurosawa hat für seinen steifen melodramtischen Spionagefilm Spy no Tsuma den Regiepreis gewonnen. Der Autor dieser Zeilen würde eigentlich mehr über diesen Film schreiben, muss aber gestehen, nach einer halben Stunde auf Durchzug geschaltet und eventuell das ein oder andere Mal eine Auge ausgeruht zu haben.
Nach Luca Marinelli im vergangenen Jahr durfte sich Pierfrancesco Favino dieses Jahr über die Coppa Volpi freuen. Er macht das, was er kann, rettet jedoch das Chaos in Padrenostro nicht. Dass Vanessa Kirby für einen ihrer zwei Rollen in den Wettbewerbsfilmen gewinnen würde, lag auf der Hand.
In Mona Fastvolds The World To Come liefert sie eine subtil dosierte Performance ab. In Pieces of a Woman forderte der Regisseur weitaus mehr von ihr ab. Die fast 30-minütige Geburtsszene am Anfang des Films – in einer Einstellung eingefangen – ist flashy, bedrückend und natürlich beeindruckend. Der Rest des Films jedoch ganz und gar nicht.
Wirklich freuen durfte man sich beim Drehbuchpreis an Chaitanya Tamhanes
The Disciple, der Form und Inhalt so toll, schlüssig und anspruchsvoll zu verbinden wusste, wie kein anderer Film im Wettbewerb. Es geht um einen Raga-Musik-Schüler, der die Musik vorm Aussterben retten und deswegen meistern möchte. Dass ihm das nicht so schnell gelingt, wie er es will, liegt in der Natur der Sache. The Disciple stellt Fragen über Kunst und Leben, wie beides miteinander zu verbinden ist, und ob sich das überhaupt lohnt. Der Film kommt daher wie ein scheinbar sich immer wiederholender und gleich klingender Raga.
Der Spezial-Jurypreis ging an Andrei Konchalovskys Dear Comrades!, der von einem zerschlagenen Aufstandsversuch in der UDSSR erzählt. Wer die Chance hat, einmal einen DAU-Film zu sehen, wird von den schwarz-weiß Bildern des russischen Regisseurs wenig beeindruckt sein. Nuevo orden des mexikanischen Regisseurs und Meister des Miserabilismus Michel Franco konnte den Silbernen Löwen des Großen Jurypreises mit nach Hause nehmen. Wenn es einen Film gab, der die Gemüter während des Festivals hochkochen ließ, dann war es dieser. Der dystopische Klassenkampf war an Gewalt, Blut und konsequenter Unnötigkeit nicht zu übertreffen.
Bei aller Liebe zur Tatsache, dass die Verantwortlichen des Festivals die Festspiele in diesem Jahr durchgezogen haben, wäre es wünschenswert, dass nächstes Jahr die Qualität der Filmauswahl hochgeschraubt wird. Die Kollegen, die die Filme in den Nachbarsselektionen Orrizonti oder Giornate degli autori aussuchen, hatten dafür den besseren Riecher.