Es hieß, keine Zeit zu verlieren. "So bedauerlich es aus bibliothekarischer Sicht auch ist, dass eine Erweiterung sich nicht vor Ort hat verwirklichen lassen, so wichtig ist es jetzt, dass die dringendst notwendige Raumschaffung wenigstens in Form einer Dépendance sobald wie möglich in Angriff genommen werden kann", schrieb 1995 der Karlsruher Gutachter Rolf Fuhlrott über die Nationalbibliothek. Denn "der Zerstörungsprozess des wichtigen Kulturgutes unter diesen Aufbewahrungsbedingungen ist unaufhaltsam, wenn nicht bald Abhilfe geschaffen wird."
1998 überschrieb der LSAP-Abgeordnete Jos Scheuer ein Kapitel seines Berichtes über den Gesetzentwurf zu einem Bibliotheksausbau: "Il y a besoin, il y a urgence!" Und am Ende seines mündlichen Berichtes entschuldigte er sich: "Ech bedauere wierklech nach eng Kéier, datt eréischt en Dënschdeg déi Dokumentatioun hei an d'Châmber komm as. Hei sin Elementer fir d'Diskussiou verluer gaangen, sin Elementer fir de Rapport verluer gaangen."
Obwohl die Zeit also zu knapp war, um sich ernsthaft sachkundig zu machen, stimmte die Parlamentsmehrheit am 18. Juni 1998 mit 38 gegen 22 Stimmen das Gesetz, mit dem 967,51 Millionen Franken bewilligt wurden, um eine Zweigstelle der Nationalbibliothek auf Kirchberg zu bauen. Schließlich musste schnell gehandelt werden.
Doch drei Jahre nach dem Votum und sechs Jahre nach dem alarmierenden Gutachten aus Karlsruhe, wurde gegenüber dem Centre Henri Tudor, wo sich Boulevard John F. Kennedy und Rue Coudenhove-Kalergi begegnen, noch kein Stein bewegt, um mit dem dringenden Bau zu beginnen. Von der parallel vorgesehenen Renovierung des ehemaligen ale Kolléisch am Boulevard Royal bestehen noch nicht einmal Pläne, Kostenvoranschläge oder gar ein Gesetzentwurf. Vielleicht war es auch deshalb, dass Premierminister Jean-Claude Juncker und Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges am 10. Juli letzten Jahres einen großen Bogen um die Nationalbibliothek machten, als sie während eines ganzen Tages Kulturinstitute und Kulturbaustellen im Land besuchten.
Dabei hatte sich Berichterstatter Jos Scheuer bei den Parlamentsdebatten 1998 freuen können, dass in der Nationalbibliothek "ewell schon am Keller geschafft gët, fir vill Milliounen. Ech mengen, et sin der 90 am ganzen." Inzwischen hat das Bautenministerium den 93 Millionen Franken teueren Kellerumbau am Boulevard Roosevelt sogar abgeschlossen. Nach Meinung aller Beteiligten ist er auch reichlich gediegen ausgefallen. Nur Bücher kann die Nationalbibliothek dort kaum aufbewahren. Denn die Luftfeuchtigkeit ist durch den nassen Sandstein, auf dem das Gibraltar des Nordens einst gebaut wurde, so hoch, dass die Bücher wegzuschimmeln drohen.
"Au plus tard depuis Luxembourg 1995, la notion de 'tourisme culturel' a sa place dans tous les argumentaires pour les investissements dans le domaine culturel," schrieb Josée Hansen letzte Woche im Vorwort der Museumsbeilage des Lëtzebuerger Land, "ils semble désormais acquis que les bétonneuses peuvent aussi rouler pour les arts." Doch an der Nationalbibliothek fahren die Betonmischer noch immer vorbei. Vielleicht weil die Regierung keine Bücher als Waffen im Standortwettbewerb der Großregion einzusetzen können glaubt. Vielleicht mögen der Premier und die Kulturministerin auch die Bibliothek nicht sonderlich, weil sie sie an ihre desaströse Personalpolitik erinnert: noch immer warten Beamte auf das Ende ihrer Suspendierung, verfügt die Bibliothek seit zwei Jahren faktisch über zwei Direktoren - die ehemaligen Direktoren im Überwachungskomitee gar nicht mitgezählt - , finden ein unerhörter psychischer und physischer Verschleiß von Mitarbeitern und die Vergeudung von Qualifikationen und Idealismus statt.
Doch die Regierung, die sich mit kulturellen Bauprojekten wie Neumünster und Rockhalle nicht gerade mit Ruhm bekleckerte, während die Bibliotheksbenutzer des Centre universitaire inzwischen schon offen rebellieren, scheint sich bewusst, dass sie auch mit dem Kirchberger Bauprojekt keinen Blumentopf gewinnen kann. Denn bereits bei der forcierten Verabschiedung des Gesetzes hatte es heftigen Widerstand - nicht zuletzt vom Fachpersonal der Bibliothek selbst - gegen die Entscheidung gegeben, die Bibliothek zu spalten und einen Teil des Bestandes im Zentrum und einen anderen Teil auf Kirchberg zu lagern und auszuleihen. Die für eine kleine Bibliothek von weniger als einer Million Bänden unsinnige Aufspaltung droht nämlich, die Beschäftigten und die Benutzer zu schikanieren, einen Teil der Infrastruktur-, Personal- und Unterhaltskosten zu verdoppeln und verschiedene Wissenszweige zu gettoisieren.
Nachdem aber dem Parlament die Entscheidung zum Bau eines zweiten Bibliotheksgebäudes abgerungen worden war, soll nun ein Konzept zum Betrieb beider Häuser oder zumindest zur Rechtfertigung der Spaltung nachgereicht werden. Dazu lieferte das Pariser Kabinett Aubry [&] Guiguet in diesem Monat den ersten Teil seiner Étude de programmation ab.
Die oberflächliche Studie rät, durch zusätzliches Personal und zusätzliche Räumlichkeiten verschiedene Bestände besser zu verwerten und mehr Bücher einzukaufen, welche die demographische Entwicklung und akademischen Bedürfnisse berücksichtigen. Außerdem sollen die Dienstleistungen der Bibliothek "global überdacht" und soll mehr für sie geworben werden.
Die Gutachter hüten sich aber davor, eine offene Bewertung darüber abzugeben, ob die 1998 zum Gesetz gemachte Aufspaltung der Bibliothek nun ein Geniestreich oder Unfug ist. Stattdessen raten sie, dass die Aufteilung der Bestände und Aufgaben zwischen beiden Gebäuden nicht nur nach funktionellen und technischen Kriterien geschehen soll, sondern auch unter Berücksichtigung der "Lesbarkeit" der Bibliotheksstruktur und der Aufwertung des Images des Nationalbibliothek. Deshalb schlagen sie vor, dass die zu lagernden Bestände mit den Gebäuden - hie einem historischen Altbau, dort einem modernen Neubau - identifiziert werden sollen. Dass also die Luxemburgensia, die Bücher aus und über Luxemburg, sowie die derzeit im Mansfeld-Saal organisierten Ausstellungen und Vorträge im Zentrum bleiben sollen, während die anderen Fonds, die "schweren" und technisch aufwendigen Funktionen nach Kirchberg ausgelagert werden sollen. Was darauf hinauslaufen könnte, dass auf Kirchberg eine wissenschaftliche Bibliothek für Hochschulstudenten eingerichtet würde, während nach dem Festungsmuseum auf Kirchberg im alten Jesuitenkollegium an der Kathedrale ein weiteres Museum des nationalen Identitätsfimmels inszeniert würde.
Dabei hätte sich für eine mindestens 968 Millionen Franken teuere Zweigstelle, einen 93 Millionen teueren Kellerumbau und eine schätzungsweise mehrere hundert Millionen teuere Renovierung des Gebäudes am Boulevard Roosevelt, also für die Kleinigkeit von eineinhalb bis zwei Milliarden, schon ein einheitlicher und funktioneller Bibliotheksneubau errichten lassen.
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