Bibliotheken sind geheiligte Orte. Man betritt sie mit äußerster Ehrfurcht, denn in ihnen werden die Schätze menschlicher Zivilisation und Kultur gehortet: die Bücher.
Dementsprechend feierlich geht es auch heute noch in vielen Bibliotheken zu. Die Besucher bewegen sich auffallend behutsam, sprechen mit leiser Stimme und versuchen, die weihevolle Stille durch keine unbedachten Äußerungen zu stören, während Bibliothekare in grauen Schürzen und mit Filzpantoffeln über versiegelte Parkettböden schleichen und staubige Folianten in dunklen Regalen abstellen.
In Büchern wird all das aufgehoben, was sich die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte an Wissen und Erkenntnissen angeeignet hat. Bibliotheken sind demnach Orte der Bewahrung, der Konservierung.
Da aber Wissen nur dann wertvoll ist, wenn es vermittelt werden kann, wenn es also zugänglich gemacht wird, müssen Bibliotheken auch dafür Sorge tragen, daß all die gelagerten Bücher, all das gestapelte Wissen, jederzeit für jeden zur Verfügung steht.
So wie es seinerzeit schon Lessing verlangt hatte: "Es kommt darauf an zu zeigen, wozu es denn genutzt habe, daß so viele Bücher mit so vielen Kosten hier zu Haufe gebracht wurden."
Schriftgut aus zwölf Jahrhunderten
Die Luxemburger Nationalbibliothek, deren Ursprünge auf das Jahr 1798 zurückgehen, als unter napoleonischer Herrschaft im Département des Forêts die erste öffentliche Bibliothek gegründet wurde, erhielt allerdings erst im Jahr 1899 ihren offziellen Titel. Seit 1973 befindet sich die Nationalbibliothek im früheren Athenäum (Kolléisch), das im 17. Jahrhundert von den Jesuiten gegründet worden war.
Die Nationalbibliothek hat, wie der seit 10 Jahren amtierende Direktor Jules Christophory betont, drei Aufgaben zu erfüllen. Sie muß Bücher sammeln, konservieren und sie dem Publikum zugänglich machen..
Die Bestände der Nationalbibliothek werden derzeit auf 800.000 Dokumente geschätzt, von deren rund 20.000 im Lesesaal frei zugänglich sind.
Darüber hinaus verfügt die Nationalbibliothek über 6.000 periodisch erscheinende Veröffentlichungen, darunter 3.500 luxemburgische, von denen 900 an Ort und Stelle eingesehen werden können.
Die kostbarste Abteilung der Nationalbibliothek ist die Sondersammlung (Réserve précieuse), die auf 120 qm Lagerfläche 140 Wiegendrucke (incunables) aus der Zeit von 1450 bis 1500, 700 Manuskripte ab dem 9. Jahrhundert, 3.500 Karten und Pläne von vor 1850, 200 Atlanten, rund 300 künstlerisch und historisch wertvolle Bucheinbände, 800 Fotografien, über 15.000 Postkarten und 20.000 Plakate aus Luxemburger Produktion zählt.
Obwohl die Nationalbibliothek mit knapp 100 Jahren eine relativ junge Institution ist, umfaßt das in ihren Archiven aufbewahrte nationale Schriftgut immerhin einen Zeitraum von 12 Jahrhunderten. Und es könnten weitaus mehr sein, wenn nicht immer wieder im Laufe der politisch bewegten Geschichte unseres kleinen Landes wertvolle Bücher und Manuskripte zerstört oder ins Ausland verschleppt worden wären.
Derzeit sind etwa 30.000 Leser in der Nationalbibliothek eingeschrieben, jedes Jahr kommen rund 2.500 dazu, in der Hauptsache Studenten. Über 40 Prozent aller eingeschriebenen Leser sind Ausländer.
Die rasch anwachsende Nachfrage der Leser stellt, wie Direktor Jules Christophory einräumt, die Nationalbibliothek vor erhebliche Probleme. Man sei hinsichtlich dieser Aufgabe, den Lesern spezielle Informationen möglichst schnell und preiswert zu vermitteln, etwas ins Hintertreffen geraten, weil es eine Weile gedauert habe, bis sich auch in Luxemburg die Erkenntnis durchgesetzt habe, daß die Nationalbibliothek weniger ein Museum sein sollte, in dem wertvolle Bücher gehortet werden, als vielmehr ein moderner Dienstleistungsbetrieb, der in Konkurrenz zu privaten Anbietern den raschen Zugriff auf wichtige Informationen und Daten ermöglichen müsse.
Die Nachfrage schafft Probleme
Die Informatik, so Jules Christophory, bietet heutzutage Möglichkeiten, von denen wir in Luxemburg einstweilen nur träumen können. Alle Welt spricht von den "Autobahnen der Information", während wir zuweilen das Gefühl haben, als bewegten wir uns noch immer auf Feldwegen.
Immerhin, so Jules Christophory, hat die EDV inszwischen auch Teile der Nationalbibliothek erobert. Seit 1985 bemüht man sich, einen zentralen Katalog über Computer zu erstellen. Inzwischen sind neun Bibliotheken (Nationalbibliothek, Centre universitaire, Athenäum, Lycée Michel Rodange, Grand Séminaire, Nationalmuseum, die beiden Konservatorien, die Luxemburger Stadtbibliothek, sowie die Infothek des Familienministeriums) über das gemeinsame Programm SIBIL miteinander vernetzt und bieten über 50 Terminals, von denen 30 in der Nationalbibliothek stehen, derzeit schon etwa 200.000 Titel aus ihren Beständen an. Auch das Statec, die Europaschule und die Bibliothek der Kommission auf dem Kirchberg zeigen Interesse an diesem System. Jedes Jahr sollen weitere 25.000 Titel gespeichert werden. Allerdings stehen bisher lediglich 15 dieser Bildschirme zur Verfügung des Publikums.
Pläne für 1995
Jules Christophory betont, da[ß] es eines der Ziele der Nationalbibliothek für 1995 sei, etwa 150.000 Bände Luxemburgensia über Bildschirm zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck habe man mit der Rekatalogisierung des gesamten Luxemburger Fundus begonnen. Um die Ausleihe künftig zu automatisieren[,] müßten sämtliche Titel mit einem elektronisch ablesbaren Strichcode und mit Sicherheitsstreifen versehen werden. Eine Heidenarbeit, betont Jules Christophory, der auch darauf hinweist, daß es aus Gründen des Platzmangels gar nicht so einfach sei, 150.000 Titel zu bewegen.
Immerhin bestehe aber berechtigte Hoffnung, daß man sich demnächst etwas Luft verschaffen könne. Im Regierungsprogramm sei ein deutlicher Hinweis darauf, daß im kommenden Jahr ein Bauprojekt in Angriff genommen werde, das eine Zusammenlegung der wissenschaftlichen Literatur ermöglichen soll. In Zusammenarbeit mit dem Centre universitaire" soll dann eine gemeinsame wissenschaftliche Bibliothek betrieben werden. Die Luxemburgensia, die Sondersammlung und die Zeitungen verblieben dann in der zentralen Bibliothek.
Es sei das Ziel der Nationalbibliothek für 1995, so der Direktor, nicht mit außergewöhnlichen Leistungen glänzen zu wollen, sondern mehr in die Tiefe zu wirken. Deshalb habe man sich ein paar nützliche Aufgaben gestellt. Darunter z.B. die Veröffentlichung von Partituren Luxemburger Komponisten und die Fertigstellung eines Indexes der Cahiers Luxembourgeois, der thematisch sowie nach Autoren, Illustratoren und Fotografen aufgestellt werden soll.
Geplant sind auch Kataloge über Schulbücher, luxemburgische Zeitschriften und Druckwerke aus dem 16. Jahrhundert. Darüber hinaus wird Jules Christophory in etwa einem Monat eine Geschichte der luxemburgischen Literatur in englisch veröffentlichen.
CD-ROM und CDI
Der NB-Direktor bedauert allerdings, daß sich ein Projekt nicht verwirklicht hat, nämlich das, eine ganze Reihe historischer Karten und Manuskripte auf CDI speichern zu lassen, um so dem Publikum die Möglichkeit zu geben, historische Daten und Bilder ganz anders, nämlich über interaktive Bild- und Tonträger zu erleben.
Lediglich einzelne Teile davon seien aufgenommen worden, und die könne man nach der Fertigstellung des Museums der Stadt Luxemburg dort eventuell dann sehen.
Jules Christophory gerät ins Schwärmen, wenn er die bisher in Luxemburg kaum genutzten Möglichkeiten der Informatik, also von CD-ROM und CDI beschreibt. Man müsse sich einmal vorstellen, mit welchem Interesse man rechnen könne, wenn man dem Publikum Informationen auf diese Art anbiete, den Lesern z.B. die Möglichkeit gebe, Geschichte, Kunst, Musik, Literatur oder Wissenschaft auch bildlich zu erleben, eventuell sogar zuhause auf dem eigenen PC, und dabei auswählen zu können, welche Informationen man haben möchte.
Eine erste Etappe einer "automatisierten Anleihe" habe man bisher aber lediglich in der jüngsten Abteilung der Nationalbibliothek, nämlich der Mediathek verwirklichen können, betont der Direktor, der darauf hinweist, daß dort immerhin über 1.600 Video-Kassetten und u.a. Tonaufnahmen aller luxemburgischer Komponisten (in der Regel Mitschnitte von RTL-Konzerten) zur Verfügung stehen.
Leider könne man die Mediathek aber nur an zwei Tagen die Woche - dienstags und donnerstags - öffnen, weil nicht genügend Personal zur Verfügung stünde.
Es sei derzeit halt so, daß die Nationalbibliothek, wegen Personalmangel und struktureller Defizite, an der obersten Grenze ihrer Möglichkeiten angelangt sei, unterstreicht Jules Christophory, der bedauert, daß man keinerlei Werbung für die Leistungen des Hauses machen könne, aus Angst, daß man einen weiteren Publikumszuwachs nicht verkraften könne.
Er sei aber zuversichtlich, so der Direktor zum Schluß, daß sich auch bei den Politikern die Erkenntnis durchsetzen werde, daß die Nationalbibliothek den Anschluß an die Zukunft, also an die Informatik, nicht verpassen dürfe, wenn sie auch weiterhin ihrer Aufgabe gerecht werden wolle, eine Enzyklopädie des nationalen Wissens zu sein, in der man mit Lust und nach Belieben blättern kann.
In: d'Letzeburger Land. - N°31, 05.08.1994, S. 7.