In den goldenen Nachkriegsdreißigern kompensierten die Luxemburger ihren nationalen Minderwertigkeitskomplex gerne mit dem Hinweis, dass ihr Kleinstaat die weltweit höchste Stahlproduktion pro Einwohner aufzuweisen habe. Doch inzwischen ist dieser Stolz vielfach ins Gegenteil umgeschlagen. Dass die Arbed zu einem der größten Stahlproduzenten der Welt und einem High tech-Unternehmen geworden ist, schert auch die sich in ihrem Wahlkampf noch immer als Opfer der Stahlkrise fühlenden Escher nicht.
So bemüht sich das Unternehmen, sein Image in der Luxemburger Öffentlichkeit zu korrigieren. Nach dem 1991 erschienenen Comic-Album De stolen A, d'Geschicht vun der Arbed a Billersträifen von Lucien Czuga und Roger Leiner gab die Arbed nun bei Nationalhistoriker Gilbert Trausch L'Arbed dans la société luxembourgeoise in Auftrag.
Der Fall ist interessant. Das Studium von Kleinraumwirtschaften erfreut sich wachsender Beliebtheit. Doch ein bemerkenswerter Aspekt kommt dabei meist zu kurz: Wenn eine sehr kleine Volkswirtschaft nicht nur von einem einzigen Sektor, sondern von einem einzigen Unternehmen dominiert wird. Wenn die United Fruit Company nach dem Ersten Weltkrieg Guatemala zu einer "Bananenrepublik" machte, war Luxemburg dann bis vor 20 Jahren eine "Stahlmonarchie"?
Gilbert Trausch rollt im Erzählton die Geschichte der Arbed von ihrer Gründung 1911 bis zur Stilllegung des letzten Luxemburger Hochofens 1997 auf, von Émile Mayrisch über das Ende des Zollvereins, die Weltwirtschaftskrise und den Nachkriegsboom bis zu der Stahlkrise und dem Expansionsschub samt Elektroöfen der letzen Jahre.
Oft äußert Trausch Meinungen und Behauptungen ohne Quellenangaben. Deshalb kommt dieses Buch im Vergleich zu den während der letzten Jahren angelaufenen historischen Forschungsprojekten zur Geschichte der Luxemburger Stahlindustrie möglicherweise zu früh oder zu spät.
Sicher war die Arbed eine Zeitlang die Grundlage der staatlichen Eigenständigkeit wie zuvor die Festung und danach vielleicht der Finanzplatz. Bei der Beschreibung dieser Symbiose zählt Trausch aber vor allem die Nachteile der Kleinstaatlichkeit für die Arbed auf, wie das Fehlen eines Binnenmarkts und die geringen Subventionsmöglichkeiten während der Stahlkrise. Vorzüge nennt er explizit jedoch keine. Welches ausländische Unternehmen konnte aber während Jahrzehnten darauf bauen, dass ihm ein Großteil des "Regulationsrahmens", des Steuer-, Arbeits- und sonstigen Sozialrechts auf den Leib geschneidert wurde?
Einen Interessenkonflikt zwischen der Arbed, die 1960 ein Drittel des volkswirtschaftlichen Mehrwerts produzierte, und dem Luxemburger Land kann Trausch sich höchstens in der Theorie oder in Detailfragen vorstellen (S. 10). Auch wenn die Arbed im Laufe der Zeit eine wahre Gegenmacht im Land geworden sei (S. 83): Anfang des Jahrhunderts seien zwischen elf und 21 Prozent der Abgeordneten Männer der Stahlindustrie gewesen, Mayrisch habe die liberale Partei und ihre Presse am ausgestreckten Arm gehalten. Doch nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und dem Aufstieg der Rechten habe die Arbed sich rasch aus der Politik zurückgezogen (S. 25).
Immer wieder sucht Trausch nach dem roten Faden des Luxemburger Sozialmodells. So übernimmt er die Auffassung, dass die Arbed die Sozialpolitik des rheinländischen Kapitalismus von den deutschen Hütten übernommen und nach dem Ende des Zollvereins fortgesetzt habe (S.12), während das französische und belgische Kapital in Terres rouges und Hadir unsozialer und konfrontationsbereiter gewesen sei.
Viel Platz räumt Trausch dem paternalistisch-karitativen Émile Mayrisch als dem großen Sozialpionier ein, der bis zu seinem Unfalltot 1928 seiner Zeit weit voraus gewesen sei. Dass unter dem Einfluss der Stahlindustrie die Luxemburger Sozialgesetzgebung aber bis zum Zweiten Weltkrieg im internationalen Vergleich rückständig blieb, versucht er damit zu erklären, dass Mayrisch sich internationalen Aufgaben widmen musste (S. 41), und die Arbed durch die Sozialkämpfe zwischen 1919 und 1921 "verängstigt" war (S. 52).
Die für die Luxemburger Gesellschaft nicht unerhebliche Zeit des Zweiten Weltkriegs übergeht Trausch trotz der teilweisen Vorarbeit von Émile Krier. Ebenso interessant wäre es zu erfahren, unter welchen Bedingungen die Arbed sich mit den Sozialreformen unmittelbar nach der Befreiung abfand.
Nach Trauschs Auffassung scheint fast eine zyklische Bewegung stattgefunden zu haben: das Luxemburger Sozialmodell als ein Stück Rückkehr zu Mayrisch. Doch "en cette fin de siècle, les contraintes du 'tout libéral' menacent ce modèle" (S. 13).
Tatsächlich befindet sich das Entscheidungszentrum der Arbed noch immer in Luxemburg, ist die Konzernleitung noch immer luxemburgisch. Aber die mittelfristige Zukunft des von der Arbed mitgestalteten Luxemburger Sozialmodells ist ungewisser denn je - nun, wenn nach der CLT auch die letzten Banken am Platz die Reste ihrer Luxemburger Identität verlieren.
Gilbert Trausch: L'Arbed dans la société luxembourgeoise. Arbed, Luxemburg 2000, 96 S., 495 Fr.