Kunst reagiert seit jeher auf die Gesellschaft, ihren Wandel und auf bewegende Ereignisse. Museen, in denen diese Kunst aufbewahrt wird, strengen sich gegenwärtig an, der sich ändernden Gesellschaft ebenfalls gerecht zu werden. Verstärkt wird über die Auswirkungen der Globalisierung und Digitalisierung, die ethnische und soziale Zusammensetzung des Publikums sowie das erhöhte Lebenstempo, das durch die schnelle, fast zeitgleiche Telekommunikation entstanden ist, diskutiert. Zwei der Schlagwörter, die in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen, sind „Entschleunigung“ und „slow“.
In unserer westlichen Gesellschaft wird „schnell“ oftmals mit „effizient“ und „effektiv“ gleichgestellt, respektive verwechselt – ein Missverständnis, das in der Arbeitswelt rasant zu erhöhter Spannung und Stress führen kann. Aktuelle Studien zeigen jedoch auf, dass die Verlangsamung positive Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Effizienz hat. Um der alltäglichen Schnelllebigkeit entgegenzutreten, gründen sich zunehmend Bewegungen wie Slow Food oder Slow Medicine. Spätesten seit 2009 mit dem frisch gegründeten Slow Art Day wurde der Begriff in die Museumswelt überführt. Dieses Jahr fand der Slow Art Day am 11. April mit mehr als 200 weltweit teilnehmenden Museen statt. Die Besucher wurden an jenem Tag eingeladen, sich fünf Werke während jeweils zehn Minuten anzuschauen und sich später darüber auszutauschen. Bedenkt man, dass sich die durchschnittliche Betrachtungszeit eines Kunstwerks auf vier bis 31 Sekunden beläuft (laut einer 2012 durchgeführten Studie des Indianapolis Museum of Art), erscheinen zehn Minuten sehr lang. Dennoch sind sie im Vergleich zur Lebenszeit – eines Menschen und insbesondere eines Kunstwerks – nur gering, fast lächerlich.
Museen mit ihren zeitlosen Meisterwerken gelten als Orte, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Sie verstehen sich auch als Ort der Kreativität und der Reflexion, die im schnelllebigen Alltag oft verdrängt werden, und als Ort, der die Sinne anregt und Emotionen intensiver wahrnehmen lässt. Einige sehen sich sogar in der Pflicht, das Museum, die Ausstellungen und Angebote so zu gestalten, dass gestresste und von Bildern und Lärm überflutete Menschen sich in eine andere Welt, die Entspannung und eine neue oder andere Vision der Realität verspricht, flüchten können.
Auch Künstler nutzen ihre Werke, um auf die (Lebens-)Zeit und die Möglichkeit, sie zu raffen und zu dehnen, aufmerksam zu machen. In seiner Videoinstallation 24 Hour Psycho (1993) dehnt Douglas Gordon Alfred Hitchcocks Film Psycho auf einen ganzen Tag; die Bilder werden also in Zeitlupe abgespielt. Dem Betrachter wird allein durch den Titel der Arbeit bewusst, dass er das Werk von Gordon nicht in seiner Gesamtheit erfassen kann – kein Museum und keine Galerie ist rund um die Uhr geöffnet. Für ihre einstündige Videoarbeit Sixty minutes silence (1996) hat die britische Künstlerin Gillian Wearing eine Gruppe von 26 Polizisten und Polizistinnen gefilmt. Stillstehend, als ob sie für ein Gruppenfoto posieren würden, verliert die Gruppe am Ende die Fassung und bricht aus der starren Pose aus. Gedacht als Referenz an die anfängliche Fotografie, bei der die Modelle teils stundelang die gleiche Haltung einnehmen mussten, zeigt das Video ebenso, dass der Besucher sich bis zu einer Stunde Zeit nehmen muss, um diesen einen Moment des Ausbruchs zu erleben.
Im Hinblick auf die Desensibilisierung unserer Wahrnehmung durch die Schnelllebigkeit, die alltägliche Bildermasse und die Verknappung von Botschaften arbeitete Ólafur Elíasson für eine Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf (05.04.–10.08.2014) einen audiovisuellen Ausstellungs-Guide aus, der den Besucher über seine gewohnte Bildbetrachtung hinaus zu einem bewussteren Sehen bringen sollte. Ein Ausstellungs-Guide liefert normalerweise Informationen und Deutungsansätze zu den ausgestellten Kunstwerken. Bei Elíasson hingegen wurden in elf kurzen Filmen dem Besucher selbst Fragen gestellt, wie: „Wie fühlt es sich an, mit Sehgewohnheiten zu brechen? Was wäre, wenn die Kunst keine Kunst wäre?“ Durch die direkte Ansprache sollte der Museumsgänger seine Sehgewohnheiten ablegen und seine eigenen Sinne hinterfragen und schärfen.
Andere Künstler, wie die aus Schottland stammende Katie Paterson, widmen sich dem Thema der Entschleunigung auf einer eher ökologischen Ebene. Für ihr Projekt Future Library (2014–2114) ließ sie 1 000 Bäume in der Gegend von Oslo pflanzen. Jedes Jahr soll von einem Schriftsteller ein Buch für die „Library“ geschrieben werden, das dann in 100 Jahren gedruckt wird, wenn die Bäume gewachsen sind. Mit ihrem langwierigen Projekt, dessen Ende die Künstlerin selbst nicht erleben wird, zielt Paterson auf den Massenkonsum und die augenblickliche Bestellmöglich von (E-)Bücher über Internet ab.
Das Kunstmuseum Wolfsburg widmete dem Thema der Entschleunigung ebenfalls eine umfassenden Ausstellung (Die Kunst der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei, 31.10.2011 ‒ 09.04.2012). Anhand der Gegenüberstellung von Kunstwerken der Romantik bis heute wurden die Bewunderung der Beschleunigung und der Bedarf nach Verlangsamung im 20. Jahrhundert veranschaulicht. Die Ausstellung griff auch die Auswirkungen der Digitalisierung und Globalisierung auf, insbesondere den heutigen Umgang mit Geld sowie das beschleunigte Wachstum (einhergehend mit überbevölkerten Städten) und Aspekte wie Finanzkrise, Umweltkatastrophen und Burnout-Syndrom.
Auch in den Museen in Luxemburg wird das Thema „Entschleunigung“ ansatzweise verfolgt. Hauptsächlich im Rahmenprogramm der Ausstellungen und im Bildungsangebot werden unterschiedliche Formate ausgearbeitet, um den Besucher zu einem längeren Aufenthalt im Museum gewinnen zu können. Beliebte Angebote sind die „erzählten“ Führungen für Kleinkinder, wie En route… in der Villa Vauban oder Il était une fois... im Mudam, bei denen die Märchenerzählung mit einzelnen Kunstwerken verknüpft wird. Die Mudam’s friday nights bewähren sich ebenfalls als Veranstaltungsformat für Erwachsene, das es ermöglicht, den normalen Museumsbesuch mit dem Gemeinschaftlichen zu verbinden und den Austausch über das Gesehene bei einem Abendessen im Mudam Café anzuregen.
Im Sommer 2011 lud das Mudam gezielt den Designer Thomas Pausz ein, um dem Publikum im und außerhalb des Museums Räume für Interaktion und Interkommunikation zu schaffen (Hortus Praxis, 15.07.–07.08.2011). Im Einklang mit der Umwelt konnten die Teilnehmer sich am kreativen Prozess aktiv beteiligen und wurden zum gemeinschaftlichen Denken und zur Entschleunigung angeregt. Die luxemburgische Künstlerin Isabelle Marmann beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema der Kunst als Möglichkeit der Verlangsamung, weniger allerdings durch die menschliche Interaktion als durch aufmerksame Betrachtung. Für ihre Ausstellung D’abord, il faut que la terre s’arrête im Centre des arts pluriels in Ettelbrück (16.04.-22.05.2013) installierte sie 32 mit farbiger Tusche bemalte Kakemonos. Der Betrachter wurde schrittweise in die Bilder eingeführt und entdeckte allmählich deren Zusammenhang. Durch Konzentration ließen sich die Zeichnungen, die den gleichen Moment darstellten, langsam zu einem Bild rekonstruieren. Der exakten Installation liegt ein langsamer und mühevoller Entstehungsprozess zugrunde, dessen sich der Besucher dank intensivem Auseinandersetzen mit dem Kunstwerk bewusst wurde.
Über den gezielten und bewussten Umgang mit dem Thema „slow“ hinaus, sind nicht zuletzt viele Ausstellungen auf den verlangsamten und aufmerksamen Besuch im Museum angelegt. Auffällig oft lud das Casino in den letzten Jahren Künstler ein, die insbesondere mit Videoarbeiten zum Verweilen aufforderten. In den Ausstellungen M+M. 7 Tage (24.1–3.5.2015) oder Patrick Bernatchez. Les temps inachevés (27.9.2014–4.1.2015) war es zum beispiel fast unmöglich, sich durchschnittlich nur vier bis 30 Sekunden die Videos anzuschauen. Der Museumsgänger musste sich also hier Zeit einräumen und vor den Kunstwerken verweilen, um sich in befriedigendem Maße mit der Kunst auseinandersetzen zu können.
Immer mehr Museen scheinen dem Problem des konsumähnlichen Betrachtens von Kunst Achtung zu schenken und ihr Potential als „Entschleuniger“ wahrzunehmen. Trotz dieses gesteigerten Bewusstseins entkommen auch Museen nicht dem Spannungsfeld der Schnelllebigkeit und setzen, auch unter Druck finanzieller Knappheit und dem Zwang der Existenzrechtfertigung durch hohe Besucherzahlen, auf die Vielfalt der Unterhaltungsmöglichkeiten und den vermehrten Einsatz von digitalen Medien und Netzwerken. Um die Präsentation der Ausstellungen und ihre Vermittlung attraktiver und die Erfahrung im Museum intensiver zu gestalten, kommen so immer öfters digitale und interaktive Technologien zum Einsatz. Multimedia- oder Audioguides, Apps und Games sollen Kunstwerke schneller erfassbar machen und einen einfachen Zugang zur Kunst gewähren. Aber genau wie Fastfood kann diese verkürzte Art der Kunstauffassung nur zeitweise die Sinne befriedigen.