Man konnte schon ein bisschen gespannt sein, auf das erste BCL Bulletin unter der Regie des neuen Zentralbankchefs Gaston Reinesch. Sein Vorgänger Yves Mersch hatte die Vorstellung der Bulletins immer genutzt, um zinspolitische Mitteilungen in der internationalen Presse zu platzieren und dabei seinem Ruf als Hardliner unter den Europäischen Zentralbankgouverneuren gerecht zu werden. Und: via nationale Presse innenpolitische Botschaften an die Regierung zu schicken, nicht zuletzt die, die Gehälterindexierung abzuschaffen.
Gaston Reinesch blieb der Vorstellung seines ersten Bulletin einfach fern und überließ die Erklärungen Direktor Serge Kolb und Chefökonom Jean-Pierre Schoder – ein Stil-Statement an sich. Was aber nicht heißt, dass der Inhalt des Bulletin weniger kontrovers ist als der vorheriger BCL-Veröffentlichungen.
In seinem Editorial warnt Reinesch vor „großen Unsicherheiten“, denen Luxemburg auf volkswirtschaftlicher Ebene ausgesetzt sei. Das verschlechterte Wirtschaftsklima in der Eurozone und trügerisch gute Ergebnisse der Luxemburger Finanzbranche – zwei „besonders besorgniserregende“ Faktoren – belasteten die Wachstumsaussichten für die heimische Wirtschaft. In ihren Dezember-Prognosen hatte die BCL 0,2 bis 0,8 Prozent Wirtschaftswachstum für 2012 und null bis zwei Prozent Wachstum für 2013 in Aussicht gestellt. Ob es dabei bleibt, sei demnach fraglich.
Den Index abzuschaffen, fordert die BCL im neuesten Bulletin zwar nicht, doch auf der Themenliste der besonderen Analysen stehen alte Bekannte wie die Lohnstückkosten und die Finanzierung der Altersvorsorge. Die Entwicklung der Lohnstückkosten in Luxemburg „levitiere“ geradezu im Vergleich zu der bei den Handelspartnern, schreibt Reinesch. Seit 1998 seien sie im Verhältnis zur Entwicklung in Deutschland um 40 Prozent gestiegen. Die BCL werde in Kürze auf dieses Phänomen zurückkommen. Bereits festgestellt hat die Zentralbank, dass vor allem die Industrie und die Finanzbranche für den in Luxemburg vergleichsweise rapiden Anstieg der Lohnstückkosten seit dem Ausbruch der Krise 2008 verantwortlich sind. Die vielleicht wichtigere Feststellung im Kontext der von Regierung und allerlei Patronatsverbänden angestrebten allgemeinen Debatte um die Zukunft Luxemburgs: Es sind laut BCL nicht etwa Gehälter-Haussen, die Hauptmotor dieser Entwicklung sind. „Qui plus est, abstraction faite des effets de l’indexation automatique des salaires sur les prix, les progressions salariales observées sur la période récente sont négligeables voire même négatives“, so die BCL-Ökonomen, was daran liegt, dass in den Betrieben die Zahl der Arbeitsstunden zurückgeführt wird, Prämien und Gratifikationen gestrichen werden und die Gehälterverhandlungen weniger großzügig ausfallen. Tatsächlich war laut BCL-Bulletin zwischen dem dritten Quartal 2011 und dem dritten Quartal 2012 die Gehälterindexierung das einzige Element, das zur Steigerung der Lohnkosten beigetragen hat. Sie sind im vierten Quartal 2012 um 0,8 Prozent und im dritten Quartal 2012 um 1,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr geklettert sind.
Im Umkehrschluss sei der rapide Anstieg der Lohnstückkosten auf die gesunkenen Produktivitätsraten zurückzuführen – eine normale Entwicklung in Zeiten schlechter Konjunktur, die aber in Luxemburg spezifische Züge habe. Das restriktive Arbeitsrecht, die Probleme der Unternehmen, qualifizierte Kräfte zu finden, der dadurch entstehenden Unwillen, gute Mitarbeiter zu entlassen, Arbeitsmarktmaßnahmen, wie die Kurzarbeit, Plans de maintiens dans l’emploi oder die branchenspezifische Cellule de reclassement der Siderurgie, sind laut BCL Faktoren, die das Phänomen der Hortung von Arbeitskräften in Luxemburg besonders verstärkt und dadurch die Arbeitsintensität gemindert haben. Zu berücksichtigen sei auch das besondere Gewicht der Stahlherstellung in der Luxemburger Industrie. 2007 stellte die Stahlproduktion rund 30 Prozent der nationalen Industrieproduktion insgesamt dar, während es im Durchschnitt der Euroländer nur zwölf Prozent waren. In der Stahlbranche seien die Produktivitätsraten besonders stark gesunken, was die BCL-Mitarbeiter darauf zurückführen, dass die Stahlarbeiter die Produktionsanlagen, Öfen und Walzwerke auch in Schuss halten müssen, wenn kaum produziert wird.
Die gute Nachricht ist demnach folgende: Die BCL hält die These von einer Produktivitäts-Baisse struktureller Natur für wenig plausibel. „Il est dès lors plus raisonnable de considérer qu’une grande part de la chute de productivité est de nature mécanique, lié au phénomène de la rétention de la main d’œuvre qui a été d’une ampleur sans précédent en raison des charactéristiques particulières (...).“ Was aber die hohen Lohnstückkosten nicht weniger problematisch für die Unternehmen macht. Wie sinkende Exportraten zeigten, gelinge es den Unternehmen nicht, diese Kosten über die Verkaufspreise an die Kunden weiterzureichen, weswegen – und das ist die schlechte Nachricht – es bald zu mehr oder weniger abrupten Anpassungen kommen könnte. „Je länger diese Situation anhält, umso stärker werden die Unternehmen reagieren müssen“, warnte Jean-Pierre Schoder am Dienstag vor Entlassungen und steigenden Arbeitslosenraten.
Sorgen bereiten der BCL zudem die auf den ersten Blick guten Ergebnisse der Luxemburger Banken. Das Ergebnis vor Steuern, Abschreibungen und Rückstellungen ist vergangenes Jahr um 18,8 Prozent (766 Millionen Euro) auf 4,844 Milliarden Euro gestiegen, und die BCL rechnet nicht mit einer größeren Rückstellungsaktion, wie in vergangenen Jahren manchmal vorgekommen. Aber die Zinseinnahmen der Banken sind im Vergleich zu 2011 um 17,2 Prozent gefallen und die Kommissionseinnahmen um 5,9 Prozent, was heißt, dass das regelmäßige Einkommen der Banken schwindet. Das Ergebnis gerettet haben die „anderen Einnahmen“, in denen sich die zum Marktwert eingetragenen Wertpapieranlagen der Banken verstecken, die starken Schwankungen ausgesetzt sind. Die Bilanzsumme der Banken lag Ende Dezember 2012 7,4 Prozent unter dem Niveau von Ende 2011. Eine Entwicklung, die darauf zurückzuführen ist, dass sich die Banken untereinander deutlich weniger Geld leihen als noch 2011. Dabei sind Interbankkredite für die heimischen Institute von großer Bedeutung, stellen sie doch über 50 Prozent der Aktivposten in den Bankbilanzen dar.
Doch nicht nur anderen Banken leihen sie weniger Geld, insgesamt ist die Kreditaktivität der Banken – außer im Bezug auf Immobilienkredite – wenig dynamisch, was die BCL auf mehrere Ursachen zurückführt. Den Umfragen der Zentralbanken zufolge haben die Banken die Kreditvergabebedingungen sowohl für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) wie für große Unternehmen Ende 2012 noch einmal verschärft, was unter anderem dazu führe, dass sich große Firmen frische Finanzmittel lieber direkt am Kapitalmarkt besorgten, eine Möglichkeit, die KMU verschlossen bleibt. So ist die Nachfrage nach Krediten von Luxemburger Unternehmen seit 2008 rückläufig. Anders sieht es hingegen im Hypothekengeschäft aus. Seit Mitte 2011 hatte sich die jährliche Wachstumsrate der Immobilienkredite verlangsamt, um Ende 2012 wieder zu beschleunigen. Im Januar 2013 betrug sie 6,7 Prozent im Vergleich zu Januar 2012. Das obwohl die Luxemburger Banken angaben, auch die Kreditvergabebedingungen beispielsweise im Bezug auf die Kreditnehmer gegebenen Garantien verschärft zu haben.
„Dies ist eine rein akademische Übung“, unterstrich Jean-Pierre Schoder am Dienstag mehrmals, bevor er die Simulation einer weiteren Rentenreform erklärte, welche die BCL in ihrem volkswirtschaftlichen Rechenmodell Lola – kurz für Luxembourg overlapping generation model for policy analysis – durchgeführt hat. „Wir begeben uns überhaupt nicht auf politisches Terrain“, fügte Schoder hinzu, sichtlich bemüht, eventuelle Polemiken zu vermeiden. Dabei ist das, was Lola an Zusatzmaßnahmen ausgespuckt hat, die bis 2060 umgesetzt werden müssten, selbstverständlich von höchster politischer und gesellschaftlicher Brisanz. Denn das Ergebnis der Übung ist folgendes: Bis 2060 soll das effektive Renteneintrittsalter auf 65 Jahre erhöht werden, der Rentensatz auf allen Renten um 40 Punkte gesenkt werden. Ab 2015 und über 20 Jahre sollen die Arbeitgeberbeiträge um fünf Prozent erhöht werden. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu erhalten und „die Lohnkosten (Bruttolöhne + Sozialabgaben zu Lasten der Unternehmen) auf unverändertem Niveau zu halten, hat Lola den Parameter „Verhandlungsposition der Arbeiter“ nach unten angepasst. Im Klartext heißt das, dass im gleichen Zeitraum Lohnsteigerungen um 0,25 Prozent begrenzt werden müssten, um die Arbeitgeber für ihre Beitragserhöhung zu kompensieren. Diese Maßnahmen, meinen die Ökonomen hinter Lola, stellten im Hinblick auf die Belastung des öffentlichen Haushalts, der Stützung des Wirtschaftswachstums und des wirtschaftlichen Wohlergehens, gemessen am Konsum, einen idealen Kompromiss dar, um die rezente Rentenreform der Regierung zu ergänzen. Sie, schreibt Reinesch, sei „unbestreitbar ein Schritt in die richtige Richtung, wird aber unter allen Umständen proaktiv von Zusatzmaßnahmen begleitet werden müssen“. So gibt es vom neuen Zentralbankchef vielleicht etwas weniger Frontalangriffe auf die Regierung. Frohe Botschaften über den Zustand der heimischen Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen hat aber auch er nicht zu verkünden.