Als Arbeitsminister Nicolas Schmit gemeinsam mit Sozialminister Mars Di Bartolomeo (beide LSAP) am 8. März die Grundzüge für die Reform der beruflichen Wiedereingliederung vorstellte, räumte er ein: „Dieses Projekt war lange in der Küche.“
Das ist wahr. Die berufliche Wiedereingliederung war 2002 über Luxemburg gekommen, als die damalige CSV-DP-Regierung im Sommer die Regeln für die Zuerkennung einer Invalidenrente änderte. Bis dahin konnte eine Invalidenrente erhalten, wem attestiert wurde, seinen Beruf nicht mehr ausüben zu können, weil er oder sie einen Unfall erlitten hatte, bereits früh körperlich abgenutzt war oder schwer oder unheilbar krank. Beim Erreichen des 65. Lebensjahres verwandelte sich eine Invalidenrente automatisch in eine Altersrente.
Seit der Reform ist nicht mehr die Berufsunfähigkeit das Kriterium für die Zuerkennung einer Invalidenrente, sondern die Erwerbsunfähigkeit. Die betreffende Person wird nicht mehr nur auf ihre Tauglichkeit für ihren letzten Arbeitsplatz untersucht, sondern auf die für den Arbeitsmarkt insgesamt. Reste von Erwerbsfähigkeit mobilisieren soll das Reclassement professionnel: Entweder, der Betrieb beschäftigt den Mitarbeiter an einem anderen Arbeitsplatz weiter, was im Behördenjargon Reclassement interne heißt. Oder die Weiterbeschäftigung gelingt nicht: Dann wird der Berufsunfähige bei der Beschäftigungsentwicklungsagentur Adem als stellensuchend registriert, erhält Arbeitslosengeld, und ein besonderer Service des travailleurs à capacité de travail réduite bei der Adem bemüht sich um seine Vermittlung in einen anderen Job. Das nennt man Reclassement externe.
Funktioniert, wie gewünscht, hat die berufliche Wiedereingliederung jedoch noch nie. Die OECD urteilte Ende 2007, in Luxemburg sei dadurch „eine neue Kategorie behinderter Arbeitsloser“ entstanden. Überwiegend männlich, 2007 mit 41 Prozent größtenteils der Gruppe der 50- bis 59-Jährigen zuzurechnen und größtenteils von Schäden am Bewegungsapparat geplagt.
Männlich, alt, krank sucht Job: Die interne Weiterbeschäftigung klappe in einem Drittel der Fälle, konnte Nicolas Schmit vor drei Wochen berichten. Das sei „recht gut“. Die externe Wiedereingliederung dagegen gelinge nur für „drei bis fünf Prozent“ der Stellensuchenden mit „reduzierten Kapazitäten“. Das ist nicht nur wenig. Weil die Lage schon lange so ist, verdirbt sie dem Arbeitsminister die Arbeitslosenstatistik. Unter den 16 963 Ende vergangenen Jahres registrierten einheimischen Arbeitslosen waren 2 441 in Erwartung externer Weiterbeschäftigung. „Beinahe 15 Prozent der Arbeitslosen“, wie Schmit klagte. Mehr noch: 1 995 Grenzpendler warteten darauf ebenfalls, denn die berufliche Wiedereingliederung gilt auch für berufsunfähige Frontaliers. So dass die Gesamtzahl der extern zu Reklassierenden bei 4 396 lag. Und: Allein 2012 kamen 1 229 Berufsunfähige neu hinzu. Das waren 50 Prozent mehr als 2011 und so viele wie noch nie.
Da fragt es sich schon, ob die Regierung Erfolg mit den Maßnahmen haben wird, die sie nun ergreifen will. Dass das System zur Wiedereingliederung sehr komplex ist und die vielen Instanzen, die in der Prozedur eine Rolle spielen, nicht immer harmonisch zusammenwirken, weiß man schon lange. Als zwei Jahre nach der Einführung der Wiedereingliederung die erste Reform nachgeschoben wurde und im Jahr danach noch eine, ging es stets um Systemoptimierung und ein hoffentlich besseres Zusammenspiel von Ärzten und Arbeitsmedizinern, dem medizinischen Kontrolldienst der Sozialversicherung, dem Spezial-Service bei der Adem und nicht zu vergessen der gemischten Kommission aus Vertretern von Regierung, Patronat und Gewerkschaften, die entscheidet, welcher Kandidat für welche Form der Wiedereingliederung in Frage kommt.
Um Prozedurbeschleunigung geht es jetzt auch. Vor allem, wenn dafür gesorgt werden soll, dass die gemischte Kommission schneller über ihre Klientel informiert wird. Nach Schätzungen des Arbeitsministeriums bleibt ihr in gut 50 Prozent der Fälle keine andere Wahl, als die externe Wiedereingliederung über die Adem zu verordnen, weil die betreffende Person mittlerweile ihre Kündigung erhalten hat. Denn hat ein Mitarbeiter mehr als 26 Wochen im Krankenschein verbracht, darf ein Betrieb ihm kündigen, um sich vor Desorganisa-tion zu schützen. Ein halbes Jahr aber kann vergehen, ehe das Dossier eines Langzeitkranken von dessen behandelndem Arzt über den für den Betrieb zuständigen Arbeitsmediziner zum medizinischen Kontrolldienst der Sozialversicherung gelangt und von dort zu der gemischten Kommission.
Während diese Maßnahme dafür sorgen soll, dass es häufiger zu einem Reclassement interne kommt, soll den Berufsunfähigen die Furcht vor einer externen Wiedereingliederung genommen werden, indem sie Berufsunfähigkeit als regelrechtes Statut erhalten. Schon 2008 schrieb die Generalinspektion der Sozialversicherung in einem langen Bericht zum Reclassement, dass viele der bei der Adem für die externe Vermittlung Regis-trierten lieber weiter in der Warteschleife blieben. Ist doch im Falle einer Entlassung keine Rückkehr ins Reklassierungsverfahren möglich, und bleibt der Betreffende nicht lange genug im neuen Job, erwirbt er nicht einmal ein Anrecht auf Arbeitslosengeld. Dagegen steht ihm, wenn die Vermittlung nicht gelingt und nach 24 Monaten das Arbeitslosengeld ausläuft, das so genannte Wartegeld aus der Pensionskasse zu, dass so hoch ist wie die Invalidenrente, auf die er Anspruch hätte, falls er berufsinvalid geschrieben worden wäre. „Berufsunfähig“ soll deshalb künftig ein Statut sein, das man erwirbt, sobald die gemischte Kommission eine Wiedereingliederung vorsieht, und es erst wieder verlieren können, falls ein Arzt feststellt, dass man nicht mehr berufsunfähig sei.
Der Erfolg der Reform wird aber davon abhängen, wie viele Betriebe angesichts eines von immer mehr Konkurrenz geprägten Beschäftigungs-marktes, und in Krisenzeiten zumal, tatsächlich bereit sein werden, mehr Berufsunfähige als heute weiter- oder neu zu beschäftigen. Die Frage stellt sich um so mehr, als früher die Invalidenrente, die es schon bei Berufsunfähigkeit gab, neben der elastischen Arbeitskräftereserve von jenseits der Grenzen eine der geheimen Ursachen für die „atypisch“ niedrige Arbeitslosenrate in Luxemburg war. Während der Stahlkrise der Achtzigerjahre diente sie ganz offiziell als ein Instrument, um den Arbeitsplatzabbau bei der Arbed ohne Entlassungen vornehmen zu können. Dass Mitte der Neunziger die Stahlkrise ausgestanden war, war möglicherwiese ein Grund dafür, dass die Sozialgerichte und der Kassationshof 1996 die bis dahin gültige Praxis für rechtswidrig erklärten: Nur Erwerbsunfähigkeit auf dem gesamten Arbeitsmarkt könne Invalidität begründen. Die 2002 verabschiedeten neuen Regeln über Invalidität und berufliche Wiedereingliederung fassten den Richterspruch in ein Gesetz.
Wie diese neuen Regeln beschaffen sind und seitdem schon zwei Mal leicht abgeändert wurden, ist letztlich Ausdruck politischer Bemühungen der wechselnden Regierungen, Unternehmern und Gewerkschaften „Teilinvalide“ schmackhaft zu machen. Nur Monate nach dem Richterspruch von 1996 hatte die damalige Sozialministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) über ein neues Gesetz zwischen Berufs- und Erwerbsinvalidität unterscheiden wollen. Berufsunfähige sollten eine halbe Invalidenrente als Berufsunfähigkeitsrente erhalten und eine staatlich gestützte Umschulung angeboten bekommen. Doch nach Protesten der Gewerkschaften, die fürchteten, aus den Teilinvaliden würden Teilarbeitslose, weil die Betriebe lieber jüngere, voll einsatzfähige Arbeitskräfte einstellen würden, zog Delvaux-Stehres den Gesetzentwurf zurück.
Dass 2002 ein Gesetz verabschiedet wurde, das den Teilinvaliden doch einführte, obwohl er nicht so heißen durfte, war Resultat eines Ausgleichs mit Gewerkschaften und Unternehmern, der gegenüber Arbeitgeber wie Arbeitnehmer mit Zuckerbrot und Peitsche operiert. Die Betriebe müssen intern reklassieren, falls sie mindestens 50 Mitarbeiter beschäftigen und ihre Quoten zur Anstellung behinderter Arbeitnehmer noch nicht erfüllt haben. Lehnt ein Betrieb, auf den das zutritfft, das Reclassement interne trotzdem ab, kann er während 24 Monaten eine Strafgebühr von einem halben Mindestlohn an den Beschäftigungsfonds abführen müssen. Doch bisher musste noch kein Betrieb das Strafgeld zahlen. Denn es kann geltend gemacht werden, dass eine interne Weiterbeschäftigung wirtschaftlich nicht zu verkraften sei. Wird dagegen ein Berufsunfähiger weiterbeschäftigt, bezuschusst die Staatskasse die Umgestaltung des Arbeitsplatzes, subventioniert die Gehaltskosten zu mindestens 40 Prozent, und es winkt eine dreijährige Steuergutschrift.
Die Gewerkschaften wiederum sollte beruhigen, dass die Wiedereingliederung derart durchorganisiert werde und für das Reclassement externe bei der Adem Vorgemerkten kein finanzieller Nachteil gegenüber einer Invalidität nach dem alten Modell drohe. Ende nach 24 Monaten der Arbeitslosengeldbezug, spränge ja die Pensionskasse mit dem Wartegeld in Höhe der Invalidenrente ein.
Deshalb ist es wiederum eine politische Geste an die Sozialpartner, wenn die Regeln zur Wiedereingliederung nun für beide Seiten verschärft werden sollen. Schon Betriebe mit 25-köpfiger Belegschaft sollen künftig intern reklassieren müssen, und ganz unabhängig davon, ob dem Personal schon Arbeitnehmer mit Behindertenstatut angehören. Die zwei Jahre lang fällige Strafgebühr bei Ablehnung des Reclassement soll vom halben Mindestlohn auf das Bruttogehalt des betreffenden Berufsunfähigen angehoben werden.
Druck auf die Berufsunfähigen, über die Adem einen neuen Job anzunehmen, soll vor allem die Aussicht machen, zu gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden zu können. Die 2010 für Langzeitarbeitslose geschaffene Occupation temporaire indemnisée (OTI) bei Staat, Gemeinden, öffentlichen Einrichtungen, Stiftungen und ASBL soll sinngemäß auch für Berufsunfähige gelten. Mit dem Unterschied, dass eine OTI in der Regel maximal zwölf Monate dauert, während die Arbeitsverpflichtung für Berufsunfähige mindestens vier Monate lang gelten soll und ihr Ende offen ist – theo-retisch könnte sie bis zur Altersrente.
Sowohl der Arbeits-, als auch der Sozialminister unterstrichen vor drei Wochen, dass dabei natürlich dem Gesundheitszustand der Berufsunfähigen Rechnung getragen werde, und es werde nicht angestrebt, dass eine derartige Beschäftigung länger als ein Jahr andauert. Das aber steht nirgendwo im Reformtext; stattdessen bekräftigte der Arbeitsminister, Sozialleistungen gebe es nicht ohne „Gegenleistung“. Sollte es doch nicht zu einem Aufschwung bei der Weiterbeschäftigung von Berufsunfähigen kommen, weil die Krise anhält und im nahen Ausland genug junge Kräfte einen Job suchen, brächte die Reform nicht zuletzt eine definitive Änderung im Diskurs: Vor 20 Jahren durfte auch wer sich alt, ausgelaugt und nicht mehr fähig zum Mithalten des Tempos fühlte, an den Ausstieg in die Invalidität denken. Heute gilt das als arbeitsscheu.