Vor über einem Monat, am 13. Februar 2013, wurde das Projet de loi relatif à l’archivage électronique, Nummer 6543, durch Wirtschaftsminister Etienne Schneider deponiert. Und im Nationalarchiv (Kulturministerium) wird fleißig an einem Entwurf eines Archivgesetzes (Schwerpunkt: staatliche Institutionen) gearbeitet, der natürlich auch digitale Archive beinhaltet. Digitale Archive, wie alles in der virtuellen Welt, sind anscheinend so leicht und platzsparend, so praktisch und ressourcenschonend, die Archivkultur revolutionierend und günstig. Nur entspricht dies nicht der Wahrheit. Und dann kann aus einer Langzeitarchivierung (LZA) eine sehr kurze werden.
Das Gesetzesprojekt Nummer 6543 ist kein LZA-Gesetz. Es betrifft hauptsächlich digital born Dokumente und regelt vor allem die staatliche Anerkennung von sogenannten „prestataires de services de conservation“ (PSDC). Zusätzlich zu solchen Archivauslagerungsanbietern gesellt sich jetzt das kontrollierte und zertifizierte Entmaterialisieren von Dokumenten. Die PSDC müssen beweisen, dass eine LZA garantiert ist. „Copie fidèle et durable“, so lautet das Leitmotiv. Fristen werden keine genannt. Eine hundertprozentige Sicherheit wird nicht versprochen. Das ist gut so, denn es gibt sie nämlich nicht.
Wenn dies auch nicht explizit aus dem Gesetzesprojekt hervorgeht, eine gewisse Papierfeindlichkeit ist zu verspüren. Archivierung per Papier bleibt allerdings eine seriöse Option. Die „destruction de l’original“ (Verordnung, Art. 4(6)) erinnert doch stark an Nicholson Bakers Buch Double Fold (2001), in dem er nachwies, wie viele Printmedien nach ihrer Mikroverfilmung zerstört wurden, bevor man erkannte, dass die Mikroformen (Mikrofiche & -film) unvollständig oder stellenweise unlesbar waren. Eine wissentlich erfolgte Archivzerstörung kann im Staatsdienst zu hohen Strafen führen (Code pénal, Livre 2, Titre 4, Chap. 3, Art. 241 & 242.). Schlampiges Entmaterialisieren gilt bisher als straffrei. Légilux ist ein Beispiel dafür, wie unvollständig Rechtsquellen (!) digitalisiert werden können. Sehr lästig ist das Fehlen von Anhängen bei Übernahme von internationalen älteren Abkommen, wie zum Beispiel dem Gesetz vom 27.07.1925 (Übereinkommen des Weltpostkongresses von Stockholm vom 28.08.1924). Unbequem nämlich dann, wenn ein „suit le texte de la Convention et des Arrangements“ (116 Seiten) – und doch in der virtuellen Welt nichts folgt.
Folgend wird aus bibliothekarischer Sicht eine kleine Einführung in die LZA von Medienwerken in unkörperlicher Form vorgenommen. Was sind digitale Materialien? Dies sind Texte, Datenbasen und -banken, Fotos, Film, Grafiken, Software, Webseiten und wissenschaftliche Primärdaten. Wer übernimmt die LZA? In der Regel sind das vertrauenswürdige staatlich finanzierte Einrichtungen (Archive, Bibliotheken, Museen), denn der finanzielle und technische Aufwand ist hoch. Diese entscheiden oft über die Komplexitätsreduzierung digitaler Objekte durch Vorauswahl bestimmter Objekttypen (zum Beispiel nur Textdokumente), Dateiformate (zum Beispiel PDF/A, XML) je nach Präferenzregelung einer Archivinstitution oder Anwendungsumgebungen (zum Beispiel nur Microsoft-Windows Betriebssysteme).
Was sind die Ursachen für den Datenverlust? Hardware- und Systemfehler (40 Prozent), menschliches Versagen (29%), Softwarefehler (13%), Viren (6%) und Naturkatastrophen (3%) (Smith, D., Cost of lost data, 2003). Für die LZA sind zukünftig spezifische Informationen über Hard- und Software von großer Bedeutung: Haltbarkeit der Datenträger, Verfügbarkeit der Wiedergabegeräte, Kompatibilitätsprobleme, Nutzbarkeit und Authentizität. Nicht zu vergessen die Nutzungskompetenz: Museen können sich glücklich schätzen, wenn noch Mitarbeiter zur Verfügung stehen, welche alte Maschinen überhaupt noch bedienen können. Dies gilt auch für die Informatik. Große Länder gießen ihre nationalen Strategien zur LZA bereits in Gesetzform. Wobei auch die Archivwürdigkeit in der Regel mit geklärt werden soll, wie zum Beispiel bei SMS (Der Spiegel, Nr. 3/2013, S. 22), sowie die Kostenfrage. Die Frage des Was-soll-gesammelt-und-gesichert-Werden würde hier zu weit führen. Nur alles sammeln, wie zum Beispiel das gesamte Internet, wie im Règlement g-d du 06.11.2009 relatif au dépôt légal der Nationalbibliothek vorgesehen, ist natürlich Schwachsinn. Das Gesetzesprojekt Nummer 6543 stellt keine national-strategische Ansprüche, da es unter anderem keine Einmischung in die nationalen Archivinstitutionen vorsieht. Da die LZA ein weltweites akutes Problem darstellt, hat die Unesco bereits 2003 eine Charta zur Bewahrung des digitalen Kulturerbes herausgegeben, welche als Orientierungsgrundlage dienen soll.
Die digitale LZA benötigt Verfahren und diese sind:
A Technisches Museum: die ursprüngliche Hard- und Software wird in ihrer Funktion erhalten (bis ein Bauteil fehlerhaft ist). Beispiel: Museen müssten funktionsfähige Schneider-, Atari-, Commodore-, Amiga-Computer, undsoweiter lagern;
B Emulation: Nachahmung der ursprünglichen Hard- und Software-Umgebung und des Betriebssystems mittels spezieller Emulationssoftware. Beispiel: ein 1980-er DOS-Spielklassiker wie Winter Games kann heute noch gespielt werden, wenn dem Spiel eine DOS-Umgebung vorgetäuscht wird. Allerdings werden Grafik- und Soundkarten von heute wohl kaum die Original-Farben und den urigen IBM-Sound nachstellen können;
C Migration: regelmäßige Übertragung der Hard- und Software-Umgebung in eine technologisch nachfolgende Systemumgebung. Dies kann gegebenenfalls ein Zwang zum Formatwandel darstellen, wobei sich die Gefahr funktionaler und inhaltlicher Verluste erhöht. Beispiel: die Umwandlung von Windows-97-Word-Dokumenten (.doc) in neuere Formate (.docx) funktioniert in der Regel noch. Wehe jedoch Sie haben früher Schrifttypen verwendet, die die neuen Formate nicht kennen, beziehungsweise umwandeln. Beim Verrutschen mehrerer hundert Seiten Layout, inklusive Tabellen, werden Sie den Tränen nahe sein;
D Konversion: Übertragung auf analoge Speichermedien, beziehungsweise Datenträger, wie säurefreies Papier, Pergament und Mikroformen (mindestens 100 Jahre) oder gar Keramik und Stein (mehrere tausend Jahre), wobei der durch die Informatik entstandene Mehrwert der digitalen Anwendung aufgegeben wird. Das zu Gesetzesprojekt Nummer 6543 gehörende Verordnungsprojekt sieht glücklicherweise die „Micrographie“ (Mikroverfilmung) vor. Sie gilt noch immer als das Sicherste. Die Idee, die früher auf Bibliothekarkongressen zirkulierte, wonach Webseiten auf farbigem Mikrofilm archiviert werden sollten, ist doch etwas abwegig und hat sich nicht durchgesetzt.
Verfahren zur Datensicherung sollen übrigens nicht mit der LZA verwechselt werden. Beispiele für Datensicherungsverfahren sind die Auffrischung der Datenträger (digital refreshing) oder das Lockss-Konzept (Lots of copies keep stuff safe), wo viele Kopien einer Datei auf vernetzten Computern Redundanz und somit Datensicherheit schaffen.
Kopieren und Manipulieren, wie beispielsweise ungeschützte Online-Jahresberichte verschiedener Luxemburger Ministerien, ist im digitalen Kontext extrem einfach. Dies hat gewollte oder ungewollte Veränderungen des originalen Inhalts (neudeutsch: Content) zur Folge. Die Authentifizierung der Originalversion durch die Urheber ist extrem wichtig. Diverse Sicherungsverfahren werden aktuell erprobt: Kryptographie (abzuraten), digitale Fingerabdrücke, Zeitstempel, verborgene Codes wie zum Beispiel Wasserzeichen. Jedoch kollidieren diese zum Teil mit den technischen Archivierungsverfahren.
Eins ist sicher: Die Archivierung und Verwaltung digitaler Objekte ist aufwändiger als bei gedruckten Publikationen! Das Papier zu verdammen, wie es das Pro-Paperless-Office-Gesetzesprojekt Nummer 6543 suggeriert, wäre verfrüht. Wie ist dies möglich? Da wären zuerst die einmaligen Kosten: die Auswahl des archivierenden Materials, Rechtslagenprüfung, Festlegung der technischen Lösung, Vollständigkeitsprüfung der Digitalisate, sowie die Herstellung oder Ergänzung von Metadaten. Dann gibt es die langfristig wiederkehrenden Kosten: die Hard- und Software-Erneuerung, Datenspeicherung, das regelmäßige Überspielen oder die Datenmigration in neue Computerumgebungen, die Archivverwaltung und regelmäßige Überprüfung der Sammel- und Archivierungspolitik. (Keller, A., Elektronische Zeitschriften, 2005)
Für viele Dokumente aus der Zeit zwischen 1995 und 2010 ist es bereits zu spät. Ein Großteil ist unwiderruflich verloren. Manche Archivare gehen so weit, diese Zeit mit der quellenarmen Epoche der Völkerwanderung zu vergleichen. Es ist vielleicht an der Zeit, über nationale LZA-Strategien nachzudenken.