Im Rahmen des European Month of Photography eröffneten letzte Woche im Centre national de l’audiovisuel (CNA) in Dudelange zwei neue Ausstellungen, die ausgesprochen unterschiedlich ausfallen: Die Ausstellung Dalston Anatomy des italie-nischen Künstlers Lorenzo Vitturi kontrastiert in ihren farbenfrohen Fotografien und Installationen mit der aufgeräumten, vergleichsweise minimalistischen Darbietung der Bilder in der Ausstellung Personne ne croit que je suis vivant der russischen Fotografin Alexandra Catiere.
Vitturi widmet sich dem Londoner Stadtteil Dals-ton, in dem er selbst lebt. Er konzentriert sich in seiner Ausstellung auf ein soziales Zentrum, den Ridley Road Market. Vitturi sieht die multi- und subkulturelle Prägung von Dalston durch eine zunehmende Gentrifizierung bedroht. Zu sehen sind neben Fotografien von Objekten und Personen des Markts auch Skulpturen aus Fundstücken, manche als Bilder, andere im Original ausgestellt. Auf einem Teppich ist zudem großformatig ein Gedicht über den Ort aufgedruckt.
Es ginge ihm darum, mit einem anderen Zugang zum Storytelling zu arbeiten und die Atmosphäre des Ortes anhand von Fragmenten wiederzugeben, so Vitturi im Gespräch. Die Nutzung verschiedener Kunstformen begründet er damit, dass die Realität heute zu komplex sei, um sie mit nur einer Serie von Fotografien wiederzugeben. Beeindruckt habe ihn an dem Ort der täglich neu improvisierte Aufbau der Marktstände aus verschiedenen Materialien, wie etwa die typischen Standgerüste, an denen Vitturi beispielsweise mit gescannten Maisblättern bedruckte Plastikplanen befestigt. Die Ausstellung vermag in diesem Spiel mit dem ohnehin charaktervollen Ausstellungsraum und der punktuellen Ausleuchtung die Atmosphäre und das Raumerlebnis des Marktes auf ansprechende Weise vorstellbar zu machen.
Was dabei wie ein buntes Sammelsurium an Farben und Texturen wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als perfekt inszenierte Improvisation: Die kombinierten Objekte sind farblich exakt abgestimmt. So ergeben sich ästhetische Zusammenhänge wie in der Kombination eines Porträts mit blauem Turban und einer Traube Luftballons im selben Farbton. Überhaupt dominieren ausgesprochen kräftige Farben die Ausstellung; vorwiegend warme Töne wie Gelb, Orange und Rot vermitteln nicht zuletzt die soziale Wärme dieses Treffpunkts.
Außergewöhnlich wirken die organischen Skulpturen aus Obst und Gemüse, die auf einigen Fotografien gezeigt sind. Er sei sehr interessiert an der Form des Stilllebens, sagt Vitturi. Außerdem seien der Einfluss der Zeit und die Vergänglichkeit zentrale Themen der Arbeit, weshalb er viel mit organischen Objekten arbeite und deren Stufen des Verfalls festhalte. Auch wenn keine organischen Objekte ausgestellt sind: Das Betrachten der Fotografien schwarzgewordener Bananen ruft unweigerlich Gerüche ins Gedächtnis. Wie Stillleben wirken auch die Por-trätaufnahmen, die teils ausgedruckt und mit über die Gesichter gestreuten Materialien (zum Beispiel grellgelbe Kreide) erneut fotografiert wurden. „Gesichter zu zeigen, finde ich sehr intim“, so Vitturi, „wenn ich die Person nicht kenne, fühle ich mich nicht wohl damit.“ Meist sei er ohnehin eher an Formen und Texturen interessiert.
Als kritische Dokumentation der Gentrifizierung möchte Vitturi sein Werk jedoch nicht verstanden wissen. Stattdessen sei er mehr an der visuellen Ästhetik des Markts interessiert und versuche schlicht, diese festzuhalten, ehe sie der Transformation zum Opfer falle. Dass die Gentrifizierung jedoch trotzdem ein wichtiger Teilbereich seiner Arbeit ist, begründet Vitturi mit seiner Herkunft: „Ich war in Venedig bereits ein Opfer der Gentrifizierung“, die dort bereits seit den Fünfzigerjahren stattfinde. Egal ob Venedig oder London: „Wenn eine Stadt ihre Gemeinschaft verliert, sind es nur Steine, die übrig bleiben. Im Falle von Venedig sind es glücklicherweise sehr schöne Steine.“
Entspricht Alexandra Catieres offene, flächig ausgeleuchtete Ausstellung gerahmter Fotografien einem gänzlich anderen Stil, beschäftigt auch sie sich mit Vergänglichkeit und Verlust. Personne ne croit que je suis vivant befasst sich mit der Abwesenheit verstorbener Personen und mit der Trauer der Hinterbliebenen. Der Inhalt ist ansatzweise aus dem Titel ableitbar, erschließt sich jedoch nicht ohne Weiteres aus den Schwarzweißbildern verschiedenster Motive, wie Händen, Menschen, Vögeln, Landschaften – Motive die ebenfalls an Fundstücke erinnern. Ein Gedicht in der Ausstellung und eine Widmung an den verstorbenen Bruder im Buch geben einen Hinweis auf den Hintergrund der Arbeit. „Die Serie ist verbunden mit dem Leben – mit meinem persönlichen Leben“, so die Fotografin, die sich selbst als sehr religiös bezeichnet. Es gehe um Verstorbene, die in der Erinnerung der Hinterbliebenen derart präsent blieben, dass es schwerfalle, an den Tod zu glauben. „Ich glaube, diese Leute werden zu Engeln, nachdem sie gestorben sind.“ Wichtig sei ihr, Leuten in Trauer die Hoffnung und das Wissen zu geben, dass es den verlorenen Menschen dort gut geht, wo sie sind.
Die vielfältigen Motive der Bilder hätten keinen zeitlichen oder geografischen Zusammenhang. Catiere geht es um die Atmosphäre, die sich aus der Gesamtheit der Bilder ergeben soll. Die weitläufige und offene Gestaltung der Ausstellungsfläche kommt dem gewünschten Effekt sehr gut entgegen: Der Besucher ist im weitläufigen Raum von einer Vielzahl Bilder umgeben.
Die Frage nach dem vielen Schwarz in ihren Fotografien begründet Catiere mit einer russischen Grundmelancholie, die sie über die Literatur, mit der sie aufwuchs, verinnerlichte. Als Wandfarbe wählte die Künstlerin das dezente Grün der Mineralerde – eine in ihrer Symbolik sehr passende Wahl: „In der Medizin wird Mineralerde verwendet, um Schmerzen zu lindern, worum es ja in diesem Projekt geht.“
Auch die Motivwahl ist von starker Symbolik geprägt. Zwischen den gerahmten Silbergelatine-Drucken sticht ein groß gedrucktes, an die Wand gekleistertes Bild eines Autounfalls heraus – ein symbolischer Verweis auf Vergänglicheit und Zufall, wie Catiere bekräftigt: „Alles Gegenwärtige ist zeitlich begrenzt, wir könnten schon morgen sterben. Sind wir bereit dafür?“
Fotografie hat nach ihrem Verständnis Parallelen zur Literatur: „Es ist ähnlich wie das Schreiben. Man fasst seine Wahrnehmung der Welt in eine zweidimensionale Form.“ Das Fotografieren der einzelnen Motive vergleicht sie mit dem Anfertigen von Notizen, auf deren Basis ein Gesamtwerk angefertigt wird. Die Symbolik und Hermetik ihrer bemerkenswert poetischen Arbeit bezeugt diesen Anspruch.