Mit dem Fiskalpakt sollen die EU-Länder nicht nur nationale Defizitbremsen, sondern quasi auch nationale Defizitverfahren einführen. Was den Handlungsspielraum der Politik nicht erweitert

Zwangsjacke

d'Lëtzebuerger Land vom 27.01.2012
Der Text sei eine gute Basis für das Treffen der Staats- und Regierungschefs am kommenden Montag, sagte Jean-Claude Juncker, Vorsitzender der Eurogruppe, nachdem sich die Finanzminister der Eurozone Anfang der Woche über die aktuelle Vorlage des sogenannten Fiskalpaktes gebeugt hatten. Seit der Fiskalpakt beim Dezembergipfel als zwischenstaatlicher Vertrag unter den EU-Mitgliedern – mit Ausnahme Großbritanniens – beschlossen wurde, laufen die Verhandlungen über den Inhalt auf Beamtenebene. Seither hat sich nicht nur der Titel des Arbeitsdokuments von „Internationales Abkommen über eine verstärkte Wirtschaftsunion“ zu „Vertrag über die Stabilität, Koordination und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ geändert.

Die Schuldenbremse, welche sich die Mitgliedstaaten, die mitmachen, nach deutschem Modell entweder in die Verfassung oder aber verbindlich in die nationale Gesetzgebung schreiben müssen, nimmt Gestalt an. In der Folge wird der Handlungsspielraum, der den Regierungen und Parlamentn bei der Gestaltung der nationalen Politik bleibt, weiter eingeschränkt. Mit dem Fiskalpakt legen sich die EU-Staaten endgültig selbst die Zwangsjacke an, und wenn es nach der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ginge, würde man sie noch ein bisschen enger schnüren.

Nur acht Seiten ist der neue Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion kurz und unter Titel III Fiskalpakt, Artikel 3, steht, worauf man sich bisher in Sachen Schuldenbremse einigen konnte. Dabei ist sie eher eine Defizit-, als eine Schuldenbremse: Die gesamtstaatliche Haushaltsposition muss ausgeglichen oder überschüssig sein, eine Bedingung, die erfüllt ist, wenn die jährliche, strukturelle Balance dem mittelfristigen Haushaltsziel (MTO für Medium term objective) entspricht und das jährliche strukturelle Defizit nicht höher ist als 0,5 Prozent im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Alle Vertragsparteien sollen eine schnelle Konvergenz zum MTO gewährleisten, die EU-Kommission soll den Zeitrahmen dafür vorgeben.

So wirklich neu ist das an sich nicht. Dass die EU-Mitgliedstaaten trotz Maastrichtkriterien von maximal drei Prozent Defizit und 60 Prozent Verschuldung ihre jeweils indivi-duellen mittelfristigen Haushaltsziele erfüllen sollen – die im Rahmen der jährlich aktualisierten Stabilitäts- und Wachstumsprogramme festgelegt werden –, gilt bereits jetzt, auch ohne neuen Vertrag.

Für Luxemburg, das sich bisher im Rahmen der Maastricht-Regeln bewegte und deshalb als haushaltspolitischer Musterschüler galt, heißt das, dass es trotz der von Finanzminister Luc Frieden (CSV) angekündigten Mehreinnahmen und des nur geringen Defizits für 2011 und des für 2012 veranschlagten Defizits von nur 0,7 Prozent dennoch die Vorgaben verfehlt. Denn eigentlich müsste es laut dem für Luxemburg fixierten mittelfristigen Haushaltsziel einen Überschuss von 0,5 Prozent erreichen. Und seit im vergangenen Dezember das so genannte Six-Pack zur Stärkung des Wachstums- und Stabilitätspakts rechtskräftig wurde, das eine präventive Komponente im Pakt einführte, drohen auch Ländern, die zwar die Maastricht-Kriterien erfüllen, aber ihr MTO verfehlen und sich nicht schnell genug daran annähern, Sanktionen.

Mit dem Six-Pack wurde für die „guten“ Schüler, die nicht in einem Defizitverfahren sind, folgende neue Regel eingeführt: Ist das MTO nicht erreicht, dürfen sich Ausgaben nicht schneller entwickeln als ein Richtwert, der dem mittelfristigen Wirtschaftswachstumspotenzial minus ein Prozentpunkt entspricht. Eine Vorgabe, die Luxemburg, stellten die Kommissionsdienste bei der Bewertung des Stabilitäts- und Wachstumsprogramms im vergangenen Jahr fest, 2012 nicht einhalten werden könne, wenn keine neuen Einnahmequellen gefunden würden. Deswegen könnte die Kommission vielleicht schon im laufenden Halbjahr, dem europäischen Semester, Alarm schlagen. Und Luxemburg deshalb im folgenden Jahr, wie es im Jargon heißt, in die korrektive Zone des präventiven Teils des Stabilitätspaktes einstufen. Was im Klartext heißen würde, Luxemburg müsste zur Strafe bei der Kommis-sion ein verzinstes Depot von 0,2 BIP-Prozent anlegen.

Die Neuerung im Fiskalpakt, den die Staats- und Regierungschefs am Montag vorläufig annehmen sollen, besteht also nicht in den strengeren Regeln an sich, sondern darin, das was auf europäischer Ebene bisher so nicht gelang – die Automatisierung der Gegenmaßnahmen – auf nationaler Ebene durchzusetzen. Alle Länder, die den Vertrag unterschreiben, müssen in der nationalen Gesetzgebung automatische Korrekturmechanismen einführen, die anspringen, wenn signifikante Abweichungen vom MTO oder dem festgelegten Plan zur Erreichung des mittelfristigen Haushaltsziels festgestellt werden – nationale Defizitverfahren demnach. Die EU-Kommis-sion soll gemeinsame Prinzipien vorschlagen, nach denen diese Korrekturmechanismen funktionieren und welche die Unabhängigkeit der Institutionen gewährleisten sollen, die auf nationaler Ebene die Einhaltung der Regeln überwachen.

„Dieser Mechanismus soll die Vorrechte der nationalen Parlamente respektieren“, heißt es in der Vertragsvorlage. Doch inwieweit Parlamente und Regierungen noch Herren ihrer eigenen Politik sind, wenn automatisch korrigiert werden muss, falls das mittelfristige Haushaltsziel verfehlt wird, lässt sich mit den Daten veranschaulichen, die Luc Frieden bei der Vorstellung des Haushaltsentwurf für 2012 auf den Tisch legte. Er erklärte im Oktober 2011, die Sozialtransfers stellten 35 Prozent der staatlichen Ausgaben dar, die Gehälter der Mitarbeiter von Staat und Verwaltungen 20 Prozent, die Investitionen 13 Prozent. Weil die Investitionsausgaben für die Berechnung der strukturellen Haushaltslage per definitionem nicht berücksichtigt werden, liegt auf der Hand, bei welchen Ausgabenposten die automatische Korrektur stattfinden würde. Denn das Augenmerk liegt vor allem auf den Ausgaben. Dass diese während der Korrekturprozedur durch Mehreinnahmen, beispielsweise aus Steuererhöhungen, kompensiert werden, schließt das Vertragswerk natürlich nicht aus, doch explizite Erwähnung findet eine solche Möglichkeit nicht.

Ohnehin lässt sich von Vorlage zu Vorlage, welche die Beamten im Vorfeld des Gipfels ausgearbeitet haben, nachvollziehen, wie die gewählten Vertreter der Europäer in den Hintergrund rücken. Hieß es in der ersten Vorlage immerhin noch, die Mitglieder der nationalen parlamentarischen Wirtschafts- und Finanzkommissionen sollten regelmäßig eingeladen werden, um in enger Zusammenarbeit mit ihren Kollegen aus dem Europaparlament über die Führung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik zu diskutieren, ist dieses Vorhaben in der vorerst letzten Version auf das EU-vertraglich geregelte Recht der Parlamentarier geschrumpft, eine Konferenz der jeweiligen Kommissionsvorsitzenden zu organisieren.

Durch den Vertrag zur Fiskalunion sollen außerdem die von Frankreich geforderten Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Eurozone eingeführt werden. Vorbereitet werden sie von einem zu designierenden, nicht gewählten Präsidenten, und eingeladen sind, neben den Staats- und Regierungschefs, auf jeden Fall der Kommissionspräsident und der Vorsitzende der Europäischen Zentralbank. Der Vorsitzende der Eurogruppe, immerhin ein auf nationaler Ebene gewählter Finanzminister, „kann“, muss also nicht eingeladen werden.

Diskussionen dürfte es beim Gipfel am Montag vor allem noch um das Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof geben. Dabei ist der Text eigentlich klar: Der Gerichtshof soll die Umsetzung der Schulden- oder Defizitbremse in nationales Recht prüfen. So wie er die Umsetzung von Richtlinien prüft, wenn die Kommission gegen Mitgliedstaaten klagt, die mit der Umsetzung hinterherhinken oder dabei erfinderisch waren. Laut Vertragsvorlage soll im Fall einer mangelhaften Schuldenbremse aber nicht die Kommission klagen, sondern die Vertragsparteien sollen sich gegenseitig beim Gerichtshof anschwärzen – noch ist der Vertrag ja kein EU-Recht, das die Kommission durchsetzen darf und soll. Gegen Mitgliedstaaten, die sich einem Gerichtsurteil nicht beugen, das eine fehlerhafte Umsetzung bestätigt, sollen die Richter Geldstrafen von bis zu 0,1-BIP-Prozentpunkten verhängen können, zahlbar an den ständigen Rettungsfonds ESM.

Doch noch diese Woche sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel Me-dienberichten zufolge ihrer Frak-tion, sie wolle sich für ein eigenständiges Klagerecht der Kommission einsetzen – wohl aus Angst, die Mitgliedstaaten könnten Zurückhaltung beim gegenseitigen Verklagen zeigen. Dabei gibt es ohnehin noch Zweifel daran, ob der Gerichtshof überhaupt dafür zuständig ist, die Umsetzung eines zwischenstaatlichen Vertrages zu kontrollieren.

Doch auch wenn es Deutschland nicht gelingen sollte, der Kommission die Rolle des Kettenhundes zu sichern – ein weiteres Druckmittel haben die Unterhändler ohnehin eingebaut. Wer ab 2013 Geld vom ständigen Rettungsfonds ESM braucht, muss den Fiskalpakt ratifiziert haben. Was wahrscheinlich auch erklärt, weshalb es bislang nur wenig laute Kritik am Fiskalpakt gibt, obwohl die Wirksamkeit von Schuldenbremsen zur Kontrolle der Staatsfinanzen nicht wirklich als erwiesen gelten kann.

Michèle Sinner
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