Kaum eine Schriftstellerin vermochte das Gefühl des Entwurzelt-Seins der Flüchtenden auf Grund der nationalsozialistischen Bedrohung so präzise und zugleich wehmütig einzufangen wie Anna Seghers in ihrem Roman Transit. Die Hafenstadt Marseille bildete Anfang der 40er Jahre einen der letzten Zufluchtsorte für jüdische und kommunistische Versprengte. Hier trafen sich mittellose Intellektuelle in den Hafenkneipen, erzählten sich ihre Geschichten und warteten auf die begehrten Visa für die USA oder Südamerika: „Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder gar unser ganzes Leben“, schreibt Anna Seghers in ihrem Roman.
Christian Petzold nimmt Seghers Romanvorlage und zieht sie in die Gegenwart. Wo man eine historische Kulisse erwarten würde, flirren Aufnahmen des heutigen Paris und Marseille an einem vorbei. Die Hatz der Polizeischergen auf Migranten: Brutale Szenen, wie man sie etwa aus den Flüchtlingslagern von Calais kennt, transportieren die Beklemmung von damals in die Gegenwart.
So wie sich Hannah Arendts Essay Wir Flüchtlinge (1943), in dem sie die Wurzellosigkeit der Geflüchteten beschreibt, heute als Parabel auf die Flüchtlingsströme lesen lässt, funktioniert Petzolds filmische Romanadaptation als politisches Statement in einer Zeit, in der vor allem Osteuropa die Grenzen für Flüchtlinge dichtmacht.
Der Filmheld Georg (Franz Rogowski) flieht von Paris nach Marseille, im Gepäck das Manuskript des Schriftstellers Weidel, das ihn durch eine Verwechslung zwei Ausreisevisa bescheren wird. Sein Alltag in der Hafenstadt gleicht dem anderer Geflüchteter zwischen dem Warten bei Rosé und einem Stück Pizza im Café Mont Ventoux und dem verzweifelten Gedrängel in Konsulaten. Er sucht die Frau (Maryam Zaree) eines auf der Flucht verstorbenen Freundes auf, freundet sich mit ihrem Sohn an, dem kleinen Driss, spielt mit ihm Fußball. Dann wird er Marie (Paula Beer) treffen, von der er ahnt, dass es sich um die Ehefrau des verstorbenen Dichters Weidel handelt und in die er sich verliebt (und die in der Rolle der in Marseille gestrandeten, geheimnisvollen Schönen weit mehr überzeugt als als aufstrebende Bankerin in Bad Banks!). Was als Rahmenhandlung für ein kitschiges Drama herhalten könnte, gleitet in Petzolds Film nie ins Seichte ab. Und das trotz alter Methoden, wie der des Voiceover. Die Filmstimme des allwissenden Erzählers legt sich aus dem Off über die Szenen und erzeugt statt Künstlichkeit eine noch stärkere Entrücktheit der Filmfiguren. Ein Kunstgriff, wie ihn Petzolds Freund Harun Farocki, der an vielen seiner Filme mitwirkte, wohl nicht zugelassen hätte.
Seit langem hatte das Duo Farocki/Petzold von einer Verfilmung von Transit geträumt. Mit seinem Beitrag für die 68. Berlinale setzt Petzold dem 2014 verstorbenen Freund eine Hommage. Und selbst wenn der Film, der in Frankreich gedreht wurde und in dem überwiegend Deutsch gesprochen wird (mit französischen Untertiteln), gerade in Luxemburg etwas befremdlich anmuten dürfte, so wirkt die Wehmut, die Transit hinterlässt, doch lange nach. Das liegt nicht zuletzt an den Nuancen, die Petzold sich erlaubt, und den mutigen Statements, die er setzt. So verkörpert mit Franz Rogowski ein Schauspieler, der lispelt, die Hauptfigur, spielt Maryam Zaree eine Taubstumme mit maghrebinischen Wurzeln. Wenn sein Filmheld zusammen mit dem kleinen Driss ein Radio repariert und verrauscht das Abendlied von Hans-Dieter Hüsch erklingt: „Schmetterling kommt nach Haus. Kleiner Bär kommt nach Haus. Känguru kommt nach Haus. Die Lampen leuchten – der Tag ist aus. Kabeljau schwimmt nach Haus. Elefant läuft nach Haus. Ameise rast nach Haus. Die Lampen leuchten – der Tag ist aus“, berührt einen die Szene weit mehr als die Bilder Geflüchteter und Toter. Bis zuletzt wird Petzold in seiner eigenwilligen Herangehensweise das gelingen, was Anna Seghers mit ihrem Roman vermochte: das Schicksal der Flüchtlinge ein Stück weit greifbar zu machen.