Es ist nicht ganz auszuschließen, dass es nächsten Donnerstag in Frankfurt zu Verlegenheitsszenen kommen könnte und zwei Dutzend der wichtigsten europäischen Bankiers in den exekutiven Höhen des Zentralbankturms auf die Spitzen ihrer blank polierten Schuhen starren. Denn möglicherweise könnte dort Ilmars Rimsevics nach einem Jahr unfreiwilliger Abwesenheit zur Ratssitzung erscheinen und die Kollegen vielleicht ein wenig unsicher sein, wie sie den lettischen Zentralbankgouverneur begrüßen sollen.
Sollte es so weit kommen, wäre das ausgerechnet darauf zurückzuführen, dass der Europäische Gerichtshof den Anträgen der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie Rimsevics selbst stattgab. Am Dienstag entschieden die Richter auf Kirchberg, Lettland, dessen Anti-Korruptionsbehörde Knab vor einem Jahr die Untersuchung einleitete, die Ende Juni 2018 zu Rimsevics’ Anklage wegen Bestechung führte, habe keine hinreichenden Anhaltspunkte vorgelegt, um die Sanktionen zu rechtfertigen, die den Zentralbankgouverneur daran hinderten, sein Amt auszuüben. Denn noch vor der Anklage hatten die lettischen Autoritäten Rimsevics unter anderem Reiseverbot erteilt, was es ihm seit vergangenem Februar unmöglich machte, an den EZB-Ratssitzungen in Frankfurt teilzunehmen. Nach der EuGH-Entscheidung erschien Rimsevics am Mittwoch in Riga prompt bei der Zentralbank zur Arbeit, wie ein Sprecher der Bank Nachrichtenagenturen gegenüber bestätigte. Da Lettland vom EuGH angeordnet wurde, die Sanktionen aufzuheben, sind Rimsevics Auslandsreisen nicht länger verboten, auch wenn er für einen Ausflug nach Frankfurt noch eine Genehmigung einholen müsste.
Mitten im Brexit-Wahnsinn, vier Monate vor den Europawahlen und pünktlich zum 20. Jubiläum der Einheitswährung, stärkt der Fall Rimsevics nicht unbedingt das Vertrauen in die Europäischen Institutionen. Denn er könnte nach den Eurokrisen und verheerenden Sparprogrammen des vergangenen Jahrzehnts manchen Beobachter zur Schlussfolgerung verleiten, dass das Führungspersonal in den EU-Institutionen nicht nur moralisch, sondern auch im unübertragenen Sinne korrupt ist.
Zentralbankgouverneur Rimsevics wird laut EuGH-Unterlagen von der lettischen Staatsanwaltschaft vorgeworfen, sich von einer privaten Bank eine Reise auf die russische Halbinsel Kamtschatka zum Fischen bezahlt zu haben lassen. Er soll sich außerdem darauf eingelassen haben, sich im Gegenzug für 500 000 Euro bei der Bankenaufsicht einzusetzen und tatsächlich 250 000 Euro angenommen haben – die Bank, hieß es aus Lettland, sei mit Rimsevics Ergebnissen nicht zufrieden gewesen und habe deshalb nur das halbe Schmiergeld bezahlt. Verurteilt ist Rimsevics, der alle Vorwürfe bestreitet, allerdings bisher nicht und deshalb gilt nicht nur für ihn die Unschuldsvermutung.
Dieser Umstand brachte die EZB in die missliche Lage, seinetwegen vor den EuGH ziehen zu müssen, um klären zu lassen, ob die Sanktionen gegen ihn einer Amtsenthebung entsprechen, die nach Artikel 14.2 der Statuten des Europäischen Zentralbanksystems (EZSB) und der EZB nur zulässig ist, „wenn er die Voraussetzungen für die Ausübung seines Amtes nicht mehr erfüllt oder eine schwere Verfehlung begangen hat“ und ansonsten als Angriff auf die Unabhängigkeit des Zentralbankiers zu werten ist – in diesem Falle durch die Regierung Lettlands. Für die EZB war die Frage umso dringlicher, da es die Sanktionen Rimsevics unmöglich machten, seiner Stellvertreterin seine Stimmrechte zu übertragen. Daher mussten die Anwälte der EZB bei der Verhandlung in Kirchberg vergangenes Jahr peinlicherweise einräumen, dass die Zentralbank durch Rimsevics Abwesenheit bei den Ratssitzungen die Beschluss- und dadurch ihre Handlungsunfähigkeit riskierte, wenn das notwendige Abstimmungsquorum nicht erreicht werden könne – keine gute Situation für eine Zentralbank, deren Vertreter den Finanzmarktteilnehmern ansonsten zu verstehen geben, dass sie allzeit bereit sind, alles zu tun, um den Euro zu bewahren. Daher beschloss der EuGH bereits Ende vergangenen Juli, dass die Stimmrechte Rimsevics übertragen werden müssten.
Nun ist davon auszugehen, dass eine ganze Menge Leute in den Chefetagen der unterschiedlichen EU-Institutionen wütend auf die lettischen Behörden sind. Denn aus dem EuGH-Urteil geht klar hervor, dass die Richter die Vertreter der lettischen Regierung mehrmals darum baten, irgendeinen Anhaltspunkt zu erbringen, um die Sanktionen zu rechtfertigen. Sie wären demnach nicht ungeneigt gewesen, Rimsevics eine „schwere Verfehlung“ zu attestieren – auch ohne rechtskräftige Verurteilung in einem Strafverfahren vor einem lettischen Gericht. Doch die Letten zierten sich, verwiesen angesichts der Nachfrage der EuGH-Richter auf das Ermittlungsgeheimnis. In den 44 Dokumenten, die sie vor EuGH vorlegten, konnten weder die Generalanwältin, noch die Richter einen triftigen Hinweis für Rimsevics Bestechlichkeit finden. Nachdem die Generalanwältin bereits ihre Schlussanträge gestellt hatte, wollten sie im Januar plötzlich neue Informationen liefern, ohne das mündliche Verfahren wieder zu eröffnen, änderten dann ihre Meinung, wollten das mündliche Verfahren wiederaufnehmen, gaben aber keinen Hinweis, was sie als Beleg einbringen könnten. Darauf entschied der EuGH, ohne neue Hinweise den am Dienstag verkündeten Beschluss zu fassen.
Das dürfte auch die EZB verärgern. Denn ihr Chef Mario Draghi hat es bisher tunlichst vermieden, Solidarität mit Rimsevics zu bekunden. Bei der Pressekonferenz nach der EZB-Ratssitzung, die am 14. Juni 2018 zwei Wochen vor der Anklage Rimsevcs in Riga stattfand – ohne Gastgeber – sagte Draghi: „the ECB is not taking any side on this.“ Bei Anhörungen im Europaparlament (EP) drei Wochen später erklärte Draghi, die Entscheidung, vor den EuGH zu ziehen, sei nicht dazu gedacht, die strafrechtliche Ermittlung in Lettland zu behindern. Er habe dies in zwei separaten Briefen an den lettischen Premier und Finanzminister explizit dargelegt. „This is where we stand. The first thing is to see the national investigation is continuing. Since then, since we made this reference to the European Court of Justice, there has been an indictment, if I’m not mistaken, and the situation is in evolution in the country itself.“ Die Frage der Europaabgeordneten Pervenche Berès, ob er etwas von den Korruptionsvorwürfen vor der Suspendierung Rimsevics gewusst habe, ließ Draghi unbeantwortet bis der Sitzungspräsident Berès das Wort wegnahm.
Kein Vertrauensvotum in den Kollegen Rimsevics, der immerhin seit 2001 Zentralbankgouverneur ist und mit dem Draghi, der selbst seit 2005 Zentralbankämter ausübt, die vergangenen 14 Jahre zusammengearbeitet hat. Diese Haltung ist umso bemerkenswerter, denn für den griechischen Kollegen, Yannis Stournaras, legte er 2017 vor demselben EP-Ausschuss die Hand ins Feuer, nannte ihn „ein zuverlässiges Mitglied des EZB-Rates“ trotz einer Razzia der griechischen Anti-Korruptionsbehörden im Büro von Stournaras Frau, nachdem der Zentralbankchef versucht hatte, bei maroden Banken durchzugreifen.
Auch Rimsevics hat versucht, sich mit dem Argument zu verteidigen, er habe Feinde in der lettischen Bankenlandschaft, weil er versucht habe, dort aufzuräumen. Vor dem EuGH argumentierte er, der Zeuge, auf den sich die Letten bei ihren Korruptionsvorwürfen berufen, sei nicht vertrauenswürdig, denn er sei 2016 selbst wegen Geldwäsche verhaftet worden. Er habe Rimsevics im Gegenzug für die Einstellung der Ermittlungen gegen ihn belastet. Bei der Bank handelt es sich um Trasta Komercbanka, deren Lizenz die EZB 2016 entzog, nachdem sie im Zentrum des in den Medien „Russian Laundramat“ getauften Skandals um die Wäsche von aus Russland stammenden Milliardenbeträgen gestanden hatte.
Da in den vergangenen Jahren und Monaten immer mehr Fälle von Geldwäsche in lettischen Banken bekannt wurden, ist allerdings zweifelhaft, dass unter der Führung der langjährigen Leitfigur der lettischen Finanzbranche Rimsevics irgendetwas aufgeräumt worden wäre. Vergangenen November kam es zu Anklagen gegen Danske Bank, die über Lettland rund 200 Milliarden Euro gewaschen haben soll – ein Riesenskandal. Tage vorher meldeten öffentlich-rechtliche Medien in Riga, die Anti-Korruptionsbehörde verdächtige Rimsevics nun auch im Zusammenhang mit der ABLV. Lsm.lv berichtete, Knab glaube, dass Rimsevics Falschinformationen über die Bank an die US-Behörden geliefert habe, um sich dafür zu rächen, dass sie sein Angebot, ihre Interessen im Ausland gegen Bezahlung zu vertreten, ausgeschlagen habe.
Das US-amerikanische Finanzministerium schloss ABLV im Februar 2018 wegen vermeintlicher Verstöße gegen amerikanische Nordkorea-Sanktionen vom Dollar-Verkehr aus und besiegelte dadurch ihr Schicksal. Nachdem die ABLV Notkredite (Ela) erhalten hatte, wurden ihr alle Zahlungen untersagt und sie ging freiwillig in Liquidation. Ihre Filiale in Luxemburg, deren Abwicklung Luxemburger Gerichte verhinderten, obwohl der Europäische Resolutionsmechanismus beschlossen hatte, für die ABLV-Gruppe bestehe kein Rettungsbedarf, ringt noch immer ums Überleben. Ihr Gläubigerschutz wurde Anfang Februar bis Juli verlängert, um die Übernahmeverhandlungen mit der Duet Group abschließen zu können, wie ABLV in Riga mitteilte.
Der Fall ABLV offenbarte noch andere Probleme für die EZB und die Aufsicht der europäischen Banken. Denn die EZB ist nicht für die Durchsetzung der Anti-Geldwäscheregeln zuständig. Als nach der Finanzkrise die Europäische Bankenaufsicht gegründet wurde, blieb diese Kompetenz bei den nationalen Aufsichtsbehörden. Das wiederholten Vertreter der EZB und der bei ihr angesiedelten, Gemeinsamen Bankenaufsicht SSM nach im Fall ABLV mehrmals. Doch dass die Beträge die nach Riga flossen, das sich als Brückenkopf der ehemaligen UDSSR-Mitglieder in der EU verstand, groß genug waren, dass auch die für die Liquidität zuständigen Zentralbanken aufmerksam hätten werden können, zeigt ein Bericht des Policy Department for Economic Scientific and Quality of Life Policies des Europaparlaments von vergangenem Dezember. Demzufolge schrumpften die Aktiva bei den lettischen Banken vom zweiten auf das dritte Quartal 2018 schlagartig um zehn Prozent (2,5 Milliarden Euro).
Nach dem Fall ABLV beeilten sich die Behörden in Riga tatsächlich, das Problem Geldwäsche anzugehen. Sie erließen ein Gesetz, das den Banken verbot, Gelder von Briefkastenfirmen anzunehmen, deren Herkunft nicht eindeutig geklärt ist. Daraufhin fiel der Prozentsatz der Einlagen ausländischer Kunden von rund 40 Prozent Ende 2017 (vor dem ABLV-Skandal) auf 20 Prozent im November 2018. Die Behörden, hieß es in Erklärungen zur Maßnahme, hätten mit der rasanten Entwicklung der lettischen Bankenbranche nicht mithalten können, die zuständigen Stellen im Kampf gegen die Geldwäsche seien unterbesetzt und Sanktionen rar gewesen.
Der Fall Rimsevics und die Probleme am Finanzplatz in Riga sind für Luxemburg daher nicht nur als Mitglied der Währungsunion von Interesse, über die Rimsevics nun theoretisch wieder bis zum Ende seiner Mandatszeit Ende 2019 mitbestimmt. Sondern auch als kleines Land mit einem Finanzplatz internationaler Ausrichtung – an dem mitunter größere Mengen Geld gewaschen werden. Denn diese Woche erklärte der lettische Außenminister Edgars Rinkevics im öffentlich-rechtlichen Radio, der Kampf gegen die Geldwäsche sei eine Frage der nationalen Sicherheit. Als Nato-Mitglied an der Grenze des früheren Besetzers Russland, ist man in Riga sicherlich sensibler dafür, wenn der große Bruder riskiert, sich für die kleinen Geschwister in Europa nicht die Hände schmutzig machen zu wollen. Doch darüber hinaus legen demnächst die Kontrolleure des Europarat-Gremiums gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung Moneyval ihren Fortschrittsbericht über die Aufräumarbeiten am Finanzplatz in Riga vor. Deswegen unterstrich Rinkvics, es sei nicht nur wichtig Gesetze gegen Geldwäsche zu erlassen. Sie müssten auch durchgesetzt werden. Und nachdem der EuGH Rimsevics am Dienstag erlaubte, den Dienst bei der Zentralbank wieder anzutreten, ärgerte sich Premierminister Krisjamis Karins über die Langsamkeit der lettischen Justiz: „Wie kann es sein, dass ein solcher Prozess mehr als zwölf Monate braucht?“, wurde er zitiert.
Dererlei Einsichten könnten demnächst auch in Luxemburg geäußert werden. Laut Kalender der Financial Action Task Force FATF, besser unter ihrem französischen Kürzel Gafi bekannt, sollen deren Kontrolleure voraussichtlich nächstes Jahr wieder hier vorbeischauen. Sie werden sich sicherlich auch dafür interessieren, ob Luxemburg die Anti-Geldwäschebestimmungen effizient durchsetzt, wie der CSV-Abgeordnete Laurent Mosar schon vor einem Jahr im Land warnte. Von besonderem Interesse dürfte dabei der Fall der Banque Rothschild Luxemburg sein, über die dreistellige Millionenbeträge aus dem malaysischen Staatsfonds 1MDB abgezweigt wurden und die dadurch in einen der bisher größten Korruptions- und Geldwäscheskandale weltweit verwickelt ist. Obwohl die CSSF Rothschild bereits im Sommer 2017 einen Bußgeldbescheid über rund neun Millionen Euro schickte, ist es bisher nicht zu Anklagen oder einem Prozess gekommen. Vergangenen Juli forderte die EU-Kommission Lettland und Luxemburg zusammen mit anderen Ländern auf, die vierte Anti-Geldwäsche-Richtlinie vollständig umzusetzen. Lettland spurte und legte einen Aktionsplan vor. Luxemburg wurde von der EU-Kommission im November vor dem EuGH verklagt, unter anderem, weil das Register für die wirtschaftlichen Eigentümer fehlte, das am dem heutigen Freitag endlich operativ sein soll.