Der Herbst ist da - wie der Volksmund weiß, die Jahreszeit der Depressionen. Dass die oft auf Lichtmangel zurückzuführen sind, weiß wiederum die medizinische Wissenschaft schon seit den 80-er Jahren und steuert mit Lichtkuren gegen. Aber immer hilft das nicht. Das Feld "Depression" ist ein sehr weites. Fakt aber ist: im Herbst suchen besonders viele Menschen psychotherapeutische Hilfe. Auch in Luxemburg.
Aber hier zu Lande suchen überhaupt immer mehr Menschen da-nach. Laut Statistiken der Krankenkassenunion UCM stieg zwischen 1995 und 1999 die Zahl der Patienten in den ambulanten Praxen der Psychiater und Neuropsychiater um 58,1 Prozent. Dass auch die Zahl der Ärzte zugenommen hat und damit die der Behandlungen, kann nicht die einzige Erklärung sein - der Ärztezuwachs betrug nur 17,4 Prozent. Und weil 1999 die Psychiater insgesamt gar nicht mal so viel mehr Honorar einnahmen als fünf Jahre zuvor, liegt nur ein Schluss nahe: die Psychiater sind anscheinend von der Nachfrage überfordert.
Therapiebedürftiges Luxemburg ? - Mutmaßungen darüber, wie viele Leute dergleichen nötig hätten, gibt es hier zu Lande nicht. Es sei denn, man schließt sich der Auffassung an, dass im Grunde jeder zumindest eine behandlungsbedürftigeNeurose mit sich herum schleppt. UCM-Präsident Robert Kieffer weist darauf hin, dass die Patientenzahlen nicht etwa von 100 000 auf 160 000 geklettert sind, sondern von 7 000 auf 11 000. Ob in der Tat die psychischen Probleme und Krankheiten drastisch zunehmen, darauf wissen auch die Praktiker keine endgültige Antwort. Der Psychiater und Verhaltenstherapeut Charles Pull möchte schon eher von einer allmählichen Enttabuisierung seelischer Probleme sprechen: "Die Leute sind viel eher bereit, Hilfe zu suchen." Auch Karin Jahr, Präsidentin der asbl Liewens-, Partner- a Familjeberodung meint, noch vor zehn Jahren hätten weitaus mehr Menschen geglaubt, sich mit dem Gang zum Psychotherapeuten in den Augen der anderen für ,géckeg' zu erklären. Vielleicht werde vor allem deshalb die Warteliste in der Beratungsstelle, die die asbl seit 1989 in der Hauptstadt unterhält, immer länger: "Dringende Fälle schieben wir möglichst noch in der selben Woche ein. Aber im Normalfall wartet man ein, zwei Monate auf ei-nen Termin. Mitunter sogar noch länger." Und der Psychiater und Psychoanalytiker Paul Rauchs erklärt, aus Zeitmangel überweise er hin und wieder einen Patienten zu ei-nem Psychologen.
Leser, die das bis hierher angerichtete Begriffswirrwarr Psychiater, Psychotherapeut und Psychologe irritiert hat, dürfen sich damit trösten, dass es den so Bezeichneten ähnlich geht. Die wachsende Nachfrage nach fachmännischem Beistand und die Suche nach Gründen dafür sind nur ein Teil der Psychotherapie-Diskussion in Luxemburg. Wer eigentlich Psychotherapie betreiben dürfen sollte, ist nach wie vor ungeklärt (siehe Randspalte).
Unübersehbar viele Therapieformen gibt es hier zu Lande nicht. Psychotherapeutisch spezialisierte Psychiater sind mehrheitlich Tiefenpsychologen, die nach der inneren Ver-ankerung eines Symptoms fragen. Diese Therapie kann lange dauern, vor allem, wenn sie zur Psychoanalyse wird, wo der Patient sich auf die berühmte Couch legen und sich ganz in seiner Innenwelt verlieren darf und soll. Den Gegenpol dazu bildet die Verhaltenstherapie, innerhalb der Psychiatrie in Luxemburg eine noch junge Disziplin. Dort wird am Hier und Jetzt gearbeitet, der Therapeut wird zum Pädagogen, der weiß, was gut ist für den Patienten und ihm Handlungsvorschläge macht. Gerade hier entsteht in der Therapie eine notwendige Partnerschaft, sagt Charles Pull, der all seinen Patienten Hausaufgaben erteilt, um daheim über sich nachzudenken. Die dritte Gruppe der psychotherapeutisch arbeitenden Psychiater sind systemisch orientierte Familientherapeuten, die das allernächste soziale Umfeld des Patienten mit in Erwägung ziehen. Überweisungen zwischen den Ressorts sind möglich, etwa, wenn ein Patient mit Angstbeschwerden beim Verhaltenstherapeuten feststellt, dass seine Symptome komplexere Ursachen haben. Dann reicht es nicht, ihn immer wieder mit angstauslösenden Situationen zu konfrontieren und ihm bei ihrer Meisterung zu helfen, dann kann der Gang zum Tiefenpsychologen besser sein.
Die Branche der psychotherapeutisch arbeitenden Psychologen ist größer als die der insgesamt 47 frei praktizierenden Neuropsychiater und Psychiater. Die Giel Säiten, die 41 Psychologen auflisten, von denen 16 sich Psychotherapeut nennen, sind nicht erschöpfend; im Ende letzten Jahres von der Société luxembourgeoise de psychologie (SLP) neu aufgelegten Répertoire des psychologues sind 120 Psychologen aufgelistet, sortiert nach Tiefenpsychologen, Verhaltenstherapeuten und Systemikern, aber auch Vertreter der hu-manistischen Psychologie, wie Gestalt- und Gesprächstherapeuten, sind darunter. Eine weitere Untergliederung zeigt, wer spezialisiert ist auf zum Beispiel die Arbeit mit Paaren oder mit Suchtkranken. SLP-Präsident Gilles Michaux hofft, dass dies ein Beitrag für mehr Transparenz ist; allerdings: nicht alle Psychologen sind im Répertoire vertreten.
Für Alfred Groff, Psychologe und Gesprächstherapeut und langjähriger Vizepräsident der SLP, dürfte in Zukunft die Abgrenzung nach Schulen immer weniger wichtig werden, dafür die Persönlichkeit des Therapeuten, seine Praxiserfahrung und die Kenntnis verschiedener Techniken.
Die Frage, was Psychotherapie kosten dürfen sollte, ist eine weitere, die noch zu klären bleibt. Einig sind Psychiater und Psychologen sich in der Auffassung, dass eine Therapie, die etwas kostet, den Patienten oder Klienten zur Mitarbeit motiviert. Abgesehen von schwer pathologischen Fällen, die allein schon deshalb in die Zuständigkeit des Arztes gehören, weil sie mit körperlichen Fehlfunktionen verknüpft sein können und ohne Medikamentengaben oft kaum zu behandeln sind, wird der aktive Patient immer wichtiger. Aber wenn schon heute die Psychiater als Kassenärzte ab und zu Überweisungen zum Psychologen ausstellen, ist klar, dass nicht jeder die im Schnitt 3 000 Franken pro Sitzung erübrigen kann. Dass Psychotherapie sozial verträglich sein muss, darauf pocht Karin Jahr von der Liewens-, Partner- a Familjeberodung. Dank der Konvention mit dem Familienministerium, die den Be-stand der Einrichtung sichert, bezahlen die Klienten dort nur, was sie geben wol-len; die meisten um die 500 Franken, sozial schlechter Gestellte geben weniger, Besserverdiener erheblich mehr. So hat sich das Familienministerium auch die Arbeit der konventionierten Einrichtungen vorgestellt; ähnlich wie das Gesundheitsministerium mit Institutionen wie dem Réseau psy, das offene Psychiatrie und Gratis-Psychotherapie anbietet. Doch all diese Stellen kennen einen Zulauf, der so groß ist, dass sie längst nicht mehr nur Notbehelf mit einer Art Feuerwehrfunktion sind. Sylvie Andrich, Psychologin und Regierungsrätin im Familienministerium und entscheidend mitbeteiligt am Aufbau der konventionierten Strukturen, weiß aus dem Feedback von Häusern wie der Liewens, Partner- a Familjeberodung oder den Centres de planning familial, dass vor allem die Qualität be-stimmter Problemfälle wächst: zum Beispiel würden immer mehr Klienten über eine regelrechte Lebensangst klagen. Im Zunehmen bergiffen seien auch die Probleme, die sich aus Ehescheidungen ergeben und alle möglichen Spielarten von Beziehungs-schwierigkeiten, die auch Auslöser für Depressionen oder Angstatta-cken sein können. Der "aktive Patient" ist damit ein unmittelbares Produkt einer sich immer weiter individualisierenden Gesellschaft, die ihre Dorf-Struktur längst verloren hat. Ein Umstand, der die Therapeuten, seien sie Ärzte oder Psychologen, in Zukunft noch stärker zur Arbeitsteilung zwingen dürfte.