Abby ist der Boss, Ben ihr Angestellter. Abby ist eine überaus attraktive Mittvierzigerin, Ben ihr Liebhaber. In ihrer New Yorker Wohnung befriedigt Abby Ben oral, kniet zwischen seinen Beinen, als die Türme des World Trade Center in sich zusammenstürzen. Nicht zynisch, nein, bierernst sortiert er seine Gedanken und hält den einen unsäglichen fest: Diese Katastrophe, die Tausende von Menschenleben forderte, soll ihnen ein „Freifahrtschein“ bedeuten, um durchzubrennen. Wird er als vermisst Geglaubter untertauchen, Ehefrau und Kinder endgültig hinter sich lassen? Wird sie ihn dazu bewegen, zuerst reinen Tisch zu machen, dem nervtötenden Handyklingeln ein Ende zu bereiten und sich seiner Gattin gegenüber zu öffnen?
Was Désirée Nosbusch und Roman Knitzka unter der Regie von Herbert Knaup auf der Bühne in einem 90-minütigen Kammerspiel liefern, ist ein verbaler Schlagabtausch, der aus einer affektiven Kurzschlusshandlung ein immer komplexer anmutendes Gewirr an gewitzter Seelenschau entwickelt. Abby und Ben zerlegen ihre Psyche Schritt für Schritt – mal haarspalterisch, mal gegeneinander, mal miteinander, zeitweise ziellos, dann mit der Absicht, gemeinsam Pferde zu stehlen.
Herbert Knaup? Désirée Nosbusch? 9/11? Beziehungskiste? Sex? Der Blick in die Programmhefte der hauptstädtischen Theater ließ mit Tag der Gnade einen seichten Promi-Hit befürchten. Die Koproduktion der Théâtres de la Ville mit dem Escher Stadttheater ist jedoch überaus sehenswert.
Auffällig ist dabei die Art, mit der Knaup die beiden Darsteller auf der Bühne führt. Je nach Intensität ihrer Zuneigung nähern sie sich körperlich oder stehen sich einander aus größtmöglicher Distanz gegenüber. Gerade dann, wenn Abby Ben auf dessen himmelschreiende Naivität und Feigheit aufmerksam macht, seine Selbstlügen entlarvt, steht sie wortwörtlich hinter ihm, so dass er sich ihr stets ungelenk und in defensiver Haltung zuwenden muss. In diesen psychologisch tragenden Momenten erbringen Nosbusch und Knitzka kraftvolle Leistungen. Neil Labutes Sprache bietet zudem die Grundlage für ein ambitioniertes Duell der Schlagfertigkeit.
Das Publikum spürt diese historische wie emotionale Stunde Null der beiden Liebhaber, die die Tragik von 9/11 nutzen wollen, um Gewohntes hinter sich zu lassen. Abbys zynische Hiebe gegen Bens vollkommene Hilflosigkeit und emotionale Kälte, ihre Entschlossenheit und ihre unmissverständliche Forderung nach Klarheit und Entschluss werden – mit oder ohne Absicht – freigelegt, stets mit einer gehörigen Prise Komik durchsetzt. Nur bedingt und vage möchten beide aus der Asche der Turmruinen aufsteigen, einen Neuanfang wagen, ihre heimliche Beziehung in Freiheit genießen. Der Phoenix aber steigt nicht auf aus der Asche in den Straßen Manhattans; seine Flügel sind zu lahm, sein Wille ist zu schwach. Die überraschende Wende ist dem Schluss mit einem dramaturgischen Kniff vorbehalten. Mehr sei hier nicht verraten.
Labute liefert diese Konfliktsituation der ständigen Gefahr des Kitschs aus, schützt seine Figuren jedoch konsequent vor dem drohenden Moment. Leider rutscht der Dialog zeitweise jedoch in einen anderen Graben, aus dem Labute und Knaup das Paar erst im letzten Drittel herausziehen: Die heftig pornografisierte Sprache erlaubt nicht nur eine relevante Analyse sexueller Frustration, sondern führt zeitweilig zu reinem Slapstick. Ein minutenlanges Kamasutra unterschiedlichster Sexstellungen entgleitet in eine dramaturgische Leere, mit der die insgesamt überragenden Darsteller sichtlich wenig anzufangen wissen. Die bis dahin überragende Mimik wirkt gekünstelt. Dass die beiden „ficken“, „blasen“, „saugen“, er sie „von hinten nimmt“, die „Missionarsstellung“ geschmäht wird und sie sich dabei vor Langeweile eine Liste an Weihnachtsgeschenken ausdenkt – das wird irgendwann deutlich, zu deutlich. Ob die Regie diese Szenen nicht hätte kürzen können? Es hätte die gesamte, an sich überzeugende Inszenierung wohl abgerundet.
Tag der Gnade entpuppt sich letztlich als handwerklich solide, psychologisch interessante, historisch originelle Produktion, die sich im Mittelteil etwas im Klamauk verliert, um schlussendlich von der guten Besetzung aus diesem Hänger gerettet zu werden.