Die Pressekonferenz beginnt. Routine auf den Internationalen Filmfestspielen von Berlin. Kameramann, Regisseur, die beiden Hauptdarsteller haben auf dem Podium Platz genommen, daneben sitzt der offizielle Pressesprecher des Festivals, der die Fragestunde der Journalisten moderiert. Schon bei der Vorstellung des Filmteams verhaspelt er sich, verwechselt die beiden Darsteller, entschuldigt sich, dass es fremdländische Namen seien und es irgendjemand falsch auf seine Stichwortkarten geschrieben hätte. Dann erklärt der Pressevertreter, dass der Regisseur ein sehr bekannter Mann auf der Berlinale sei. Er habe bereits einen Goldenen Bären für den besten Film gewonnen, mit einem anderen Werk am Wettbewerb teilgenommen, mit Drehbüchern brilliert, Premieren gefeiert. Und auch der Kameramann sei auf den Filmfestspielen kein unbekannter, er kenne die Stadt, die Stadt kenne ihn. Alles das nennt der Pressesprecher als Gründe, warum Wang Quan’an in diesem Jahr mit Öndög wieder einen Film ins Rennen um den besten Film schicken durfte. Mehr Qualitätsmerkmale brauchte der Streifen nicht – als die Biografie seines Regisseurs und die Preise des Kameramanns. Der Berlinale-Mensch stellt die erste Frage: Man habe den letzten Film in A gedreht, Öndög nun in B, was genau habe denn dieser Ortswechsel an Veränderungen mit sich gebracht? Die ersten Journalisten verlassen den Raum.
Es sind die letzten Berliner Filmfestspiele unter Dieter Kosslick. Am 1. Mai 2001 wurde er zum Direktor berufen, im Februar 2002 folgte dann die erste Spielzeit unter seiner Ägide. Über 18 Jahre hinweg machte er die Berlinale zum größten Publikumsfilmfest der Welt. In diesem Jahr werden knapp 500 000 Besucher gezählt, von denen sich etwa 325 000 eine Eintrittskarte zu mindestens 13 Euro kaufen mussten. Dabei konnten sie unter mehr als 400 Filmen auswählen in einer inzwischen unüberschaubaren Anzahl von Sektionen und Aufführungsorten – selbst die Justizvollzugsanstalt Tegel wird zur Spielstätte. Insgeheim hatte man gehofft, dass es Kosslick zum Ende seiner Direktorenzeit rund um den Marlene-Dietrich-Platz, an dem mit dem Berlinale-Palast die größte Spielstätte des Filmfest steht, noch einmal richtig krachen lässt, um sich selbst ein Geschenk zum Abschied zu machen und in bester Erinnerung zu bleiben. Doch dieser Vorgabe wollte Kosslick auf keinen Fall folgen.
So stand die letzte Woche unter dem müden Motto: „Man sieht sich, man trifft sich, man lebt von Erinnerungen.“ Es machte den seltsamen Eindruck, als habe Dieter Kosslick nochmals all seine Freunde zum Wettbewerb der Berlinale eingeladen. Oder: Als sei er lustlos durch die Welt gereist, um am Ende der Reise 17 Filme zusammengekratzt zu haben, die irgendwie einen Wettbewerb bei der ehemals renommierten Berlinale ergeben. Fatih Akin brachte Der Goldene Handschuh nach Berlin, François Ozon Grâce à Dieu, Tilda Swinton zeigte ihr Können, der brasilianische Schauspieler und Regisseur Wagner Moura und Catherine Deneuve schlenderten über den Roten Teppich. Isabelle Huppert fehlte allerdings. Diane Kruger trat in einer schwachen Agentinnen-Rolle auf, Christian Bale gab den US-amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney – beide jeweils in Filmen, die außer Konkurrenz gezeigt wurden.
Der chinesische Wettbewerbsbeitrag Yi miao zhong (One second) musste schließlich kurzfristig aus dem Wettbewerb genommen werden. Von offizieller Seite hieß es, es habe Probleme bei der Postproduktion des Films gegeben. Chinesische Journalisten gaben zu verstehen, dass der Film es wohl nicht durch die Zensur geschafft hätte. Schließlich widmete sich der Film von Regisseur Zhang Yimou der chinesischen Kulturrevolution. Ein aus dem Arbeitslager entflohener Häftling trifft dabei in einem entlegenen Dorf auf ein Waisenmädchen, das die Filmrolle der Wochenschau klaut, die der Sträfling unbedingt sehen möchte. Während die Dorfbewohner auf den Beginn der Wochenschau warten, wird die Filmdose stets weitergereicht. Damit verlor die diesjährige Berlinale bereits ihren zweiten chinesischen Beitrag. Shao Nian De Ni (Better-Days), ein Mobbing-Drama aus der Jugendsektion „Generation 14plus“, wurde wenige Tage vor Beginn des Festivals zurückgezogen, was ebenfalls mit einer verspäteten Fertigstellung begründet wurde.
Auch von Fatih Akins Goldenem Handschuh hieß es, es wurde bis zur buchstäblich letzten Minute geschnitten und montiert, um den Film rechtzeitig zur Premiere am vergangenen Freitag fertig zu bekommen. Akin erzählt in drastischen Bildern das Töten des deutschen Massenmörders Fritz Honkas zu Beginn der 1970-er-Jahre in Hamburg. Ein Film, der nichts für schwache Nerven ist, eher eine sadistisch-pornografische Milieustudie sein könnte, wenn der Hauptdarsteller Jonas Dassler keine so flapsige Leistung abgeliefert hätte. Der Film war der Aufreger der diesjährigen Ausgabe – auch aus Ermangelung anderer Filme, die überhaupt des Aufregens und des Diskutierens würdig gewesen wären. Letztendlich verblieben 16 Filme im Wettbewerb. Da reiche ja die bloße Teilnahme aus, unkte es in Berlin, um schon einen der vielen Preise abzubekommen.
Aufregung gab es dann eher von außerhalb. Bereits zu Beginn der Berlinale hieß es, dass die Filmtheater-Mitarbeiter der Filmfestspiele sich den Warnstreiks des Öffentlichen Dienstes anschließen würden, um darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Gewerk nicht einmal der deutsche Mindestlohn von 9,19 Euro pro Stunde gezahlt werde. Die Verantwortlichen des Festivals, so beruhigte die Flüsterpresse, habe jedoch bereits vorgesorgt und Streikbrecher organisiert, damit die heile Welt im Kino weiterflimmern könne. Am Ende streikt am Freitag der Öffentliche Nahverkehr.
Und dann war da noch die AG Kino, der Verband deutscher Filmtheater, der forderte, dass das Liebes-Drama Elisa y Marcela der spanischen Regisseurin Isabel Coixets aus dem Wettbewerb verbannt werden solle. Begründung: Es wäre der erste Netflix-Film, der einen Bären gewinnen könnte. „Entgegen anderslautender Beteuerungen des Rechte-Inhabers Netflix deutet alles darauf hin, dass der Film nicht regulär ins Kino kommen wird“, hieß es in einem offenen Brief, den rund 160 Kinobetreiber an die Kulturstaatsministerin Monika Grüters, größte Geldgeberin der Berlinale, und Dieter Kosslick richteten. „Es ist inakzeptabel, dass Netflix im Sinne der Durchsetzung des eigenen erzkapitalistischen Geschäftsmodells mit purer Wirtschaftsmacht einseitig eine Umdeutung des Begriffs Kinoauswertung erzwingen will. Eine Auswertung wider Gesetze und funktionierende Gepflogenheiten verstößt gegen die Statuten des Festivals.“ Die Unterzeichner forderten, dass der Film zwar wie geplant zu zeigen, ihn aber kurzfristig „außer Konkurrenz“ zu präsentieren und ihm damit die Chance auf eine Auszeichnung zu nehmen. Netflix konterte mit der Ankündigung, nun drei deutsche Filme produzieren zu wollen. Den Verweis auf das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) ersparte sich der Serien-Sender. Die Mainzer haben sich als einer der vier Hauptsponsoren des Festivals etabliert und sich damit das Recht erkauft, genügend Fernsehspiele – auch minderer Qualität – auf einer Berlinale-Leinwand veredeln zu dürfen. Ein luxemburgischer Beitrag schaffte es nicht in den Wettbewerb, wohl aber zwei Koproduktionen ins Panorama, der neben dem Wettbewerb wichtigsten Sektion der Berlinale: Flatland und Temblores.