Bis in die 70-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war der Satz „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ noch Gemeingut. Er geht auf den griechischen Philosophen Heraklit zurück und ist 2 500 Jahre alt. In modernen Zeiten meinte man damit, dass ein Krieg verdeckte Veränderungen freilegt und schon im Keim angelegte Entwicklungen beschleunigt. Im 20. Jahrhundert finden sich für die These zahlreiche Belege. Heutzutage ist das nicht nur nicht mehr politisch korrekt (Niemand bekennt sich noch so fröhlich zum Krieg wie in der Antike. Und wo bleiben die Mütter?), sondern auch für Europäer auf ihrem eigenen Kontinent undenkbar. Trotz Irak- und Afghanistan-Krieg kann man sagen: Nicht mehr der Krieg, sondern die globale Krise ist zum großen Katalysator von Entwicklungen geworden.
Die Europäische Union kann davon ein Lied singen. Vor nicht allzu langer Zeit glaubte sie noch, mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt die europäische Währungsunion hinreichend abgesichert zu haben. Griechenland ist ja auch deshalb aufgenommen worden, weil sich niemand vorstellen konnte, dass seine Haushalts- und Wirtschaftspolitik einmal den Euro als solchen gefährden könnte. Dass das Land nicht wirklich reif für den Euro-Beitritt war, wusste zur Jahrhundertwende jeder, der es wissen wollte. Und als der Lissabon-Vertrag endlich unter Dach und Fach war, sollte er die Blaupause für viele Jahrzehnte liefern. Eine europäische Wirtschaftsregierung ist darin nicht vorgesehen.
Und doch entsteht sie jetzt. Im September 2010 stimmte der Europäische Rat den Vorschlägen der Kommission zu, nationale Wirtschaftspolitik und vor allem die nationalen Haushalte einer europäischen Prüfung zu unterwerfen. Das Verfahren, „Europäisches Semester“ genannt, wurde jetzt in Gang gesetzt. Als ersten Schritt des „Europäischen Semesters“ hat die Kommission am 12. Januar ihren Jahreswachstumsbericht vorgestellt. Am Ende des so eingeleiteten Prozesses sollen bis Juli auf europäischer Ebene abgestimmte nationale Budgets und vom Rat auf Vorlage der Kommission beschlossene Leitlinien vorliegen, mit Vorgaben, die auf die einzelnen Länder abgestimmt sind.
„Mit dem Jahreswachstumsbericht tritt der europäische Integrationsprozess in eine neue Phase“, sagte Kommissionspräsident José Manuel Barroso bei der Vorstellung des Berichts. Der viel gescholtene Portugiese, der es vergangene Woche verstand, sich mit Forderungen zur Ausweitung des Euro-Rettungsschirms bei Angela Merkel und Nicolas Sarkozy unbeliebt zu machen, hat recht. Und wie das bei neuen Integrationsprozessen so üblich ist, gehört ein wildes Hauen und Stechen dazu.
Bis zum Sommer wird sich zeigen, ob die Regierungschefs der Mitgliedstaaten ihr unter dem Schock der Wirtschafts- und Finanzkrise selbst beschlossenes Programm auch durchziehen werden. Tun sie es, dann gibt es tatsächlich eine kollegiale europäische Wirtschaftsregierung, die im Europäischen Rat und im Ministerrat anzusiedeln ist, denn dort werden die Beschlüsse gefasst. Barroso aber beansprucht diese Rolle für die Kommission. „Die Kommission ist die Wirtschaftsregierung Europas“, hat er Mitte 2010 vollmundig im Europäischen Parlament verkündet. Das ist Illusion, aber die nicht zu unterschätzende Macht der Kommission liegt darin, dass sie die Analysen vornimmt, die Beschlussvorlagen liefert, die Koordination steuert und neuerdings unverblümt Forderungen stellt.
Viele Kommentatoren haben vor diesem Hintergrund von einem Machtkampf zwischen EU-Kommission und Rat, sprich zwischen Merkel, Sarkozy sowie Ratspräsident Van Rompuy und Kommissionspräsident Barroso gesprochen. Eine weitere Bruchlinie verläuft zwischen den Euro- und den Nicht-Euroländern. Aber die ist nicht so deutlich, wie man denken könnte, denn Großbritannien muss den Euro schon aus eigenem Interesse stützen. Käme es zu einer fundamentalen Krise der Währungsunion, müsste das Land seine Banken wohl zum zweiten Mal retten. Das ist ein Szenario, das sich in London niemand wirklich vorstellen möchte.
Nur in der Eurozone kann wahrscheinlich politisch durchgesetzt werden, dass nicht nur letztlich unverbindliche Absprachen im Rat getroffen werden (mit dieser Methode ist schon die Lissabon-Strategie gescheitert), sondern verbindliche Verfahren und Entscheidungen installiert beziehungsweise getroffen werden, damit eine gemeinsame Wirtschaftspolitik auch umgesetzt wird. Denn die „Euro-Retterstaaten“ haben mit ihrer Kreditwürdigkeit einen ausreichend großen Knüppel, um ihre Forderungen nach dieser Verbindlichkeit durchzusetzen. Das erstmalige Treffen der mit der Note AAA bewerteten Euroländer (Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Finnland, Österreich und die Niederlande) vor dem Finanzministertreffen am Montag spricht hier eine deutliche Sprache.
Die zukünftige gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik ist noch ein Küken, dessen Überlebensfähigkeit noch lange nicht bewiesen ist. Gelingt sie, wäre sie in der Tat eine Revolution. Ob diese Politik dann die richtige sein wird, das müssen die Politiker den europäischen Bürgern erst noch beweisen.