Russland bleibt ein unbequemer Nachbar für die Europäische Union. Daran ändert auch der auf dem 13. EU-Russlandgipfel am 7. Dezember verabschiedete erste Fortschrittsbericht nichts. Das Gegenteil ist richtig: Gerade dass es einer Einrichtung wie Fortschrittsberichte bedarf, ist ein Hinweis darauf, dass vieles im Argen liegt. Der aktuell öffentlichkeitswirksamte Konfliktpunkt vereinigt viele Probleme wie in einem Brennglas. Wobei, je nach Perspektive und Standpunkt, die Probleme vorwiegend bei Russland oder bei der EU gesehen werden.
Russland hat offensichtlich kein Problem damit, die Rechtsstaatlichkeit – oder was davon in Russland vorhanden ist – vor aller Welt mit Füßen zu treten. Wer der herrschenden Clique Konkurrenz machen will und über große wirtschaftliche Macht verfügt, vorzugsweise wichtige Rohstoffe, über den wird verfügt wie in Zeiten des absolutistischen Zarenregimes. Michail Chordorkowski gibt gerne darüber Auskunft. Das gilt auch international: Wer als Nachbar nicht botmäßig ist und eine gewisse kritische Masse nicht erreicht, der wird, auch territorial, zum Opfer einer Großmacht, die ungeschminkt Unterwerfung verlangt. Der Krieg um Georgien ist zwar so gut wie vergessen, die Amputation des Landes aber bleibt eine Tatsache. Russlands Verhalten ist nicht zu entschuldigen, selbst wenn man der georgischen Regierung große Dummheit bescheinigen muss.
Putin und Konsorten wollen mit der EU Geschäfte machen, ihrem Rechtsstaatdenken wollen sie sich nicht verpflichten. Dabei ist Russland Mitglied des Europarates und hat damit die Europäische Menschenrechtscharta unterzeichnet. Weil die EU keinen Dialog mit Russland führen kann, ohne über Demokratie und Menschenrechte, beziehungsweise deren Mangel, zu sprechen, ist sie auch ein unbequemer Nachbar für Russland. Hinzu kommt: Keiner kann ohne den anderen, aber 20 Jahre nach dem Ende der sowjetischen Herrschaft können sie immer noch nicht miteinander.
Dabei bietet das vor uns liegende Jahrzehnt eine große Chance fürRussland. Die Möglichkeiten sind da: Das Land wächst wieder mit fünf Prozent, Öl- und andere Rohstoffpreise notieren hoch, die Börse steht kurz davor, die alten Rekorde von 2008 zu brechen. Russland könnte 2011 Mitglied der Welthandelsorganisation werden, nachdem die letzten Differenzen mit der EU bereinigt worden sind. Schon jetzt ist das Land wegen seiner Rohstoffexporte der drittgrößte Handelspartner der EU nach den USA und China. Die EU hat größtes Interesse daran, den russischen Markt so stark wie möglich mit dem Gemeinsamen Markt zu verbinden und die wirtschaftlichen Beziehungen so diversifiziert wie möglich zu entwickeln, um die herausragende Rolle des Energiemarktes durch ein breiteres wirtschaftliches Umfeld nach und nach zu nivellieren.
Russland selbst steht vor wichtigen Weichenstellungen. Derzeit sieht es noch so aus, als sei das Regime Putin fest gegründet. Alles andere als eine erneute Übernahme der Präsidentschaft durch Putin bei den nächsten Wahlen 2012 wäre aus heutiger Sicht eine Überraschung. Damit aber würde das Land mit einer schweren Hypothek belastet. Denn schon seit dem Ende von Putins Präsidentschaft bremst seine Politik die wirtschaftliche Entwicklung eher, als dass sie sie fördert. Mit innerer Freiheit und Rechtsstaatlichkeit lägen die russischen Wachstumsraten nach Expertenmeinung jedenfalls deutlich höher. Die Zukunft muss zeigen, ob die Rohstoffrente weiterhin so hoch ausfällt, dass sie dem Land die Möglichkeit gibt, sich vor wichtigen Reformen zu drücken. Ein modernes Fundament für eine voll entwickelte Marktwirtschaft aber wäre die beste Zukunftsinvesti-tion für die russische Gesellschaft. Das hieße Rechtsstaatlichkeit. Die aber kann Putin nicht gebrauchen. Sie wäre längerfristig das sichere Ende seines oligarchischen Herrschaftssystems.
Chaos in Russland will niemand. Das Land ist und bleibt atomare Großmacht, auch wenn sich zur Zeit in Europa wohl nur ganz wenige vor russischen Atomsprengköpfen fürchten. Mitglied der Nato wird das Land so schnell nicht werden, aber für bessere Beziehungen steht die Tür nach dem letzten Gipfel weit offen. Die EU hat sich auf eine Politik der kleinen Schritte gegenüber Russland verständigt. Etwas Anderes bleibt ihr gar nicht übrig. Die große Hoffnung ist, dass sich das Riesenreich langsam aber sicher den europäischen Standards annähert. Das ist gewissermaßen auch ein Zivilisierungsauftrag aus Selbsterhalt gegenüber einem Nachbarn, von dessen friedfertigem Verhalten in Krisenzeiten auch der Frieden in Europa abhängig ist.
Wer so vorgeht, rechnet in Jahrzehnten. Russland und die EU haben beschlossen, einen Arbeitsplan zur Modernisierung Russlands auszuarbeiten. Energiepolitik hat im Grundlagenpapier schon einen Horizont bis 2050. Insgesamt wird dieser Arbeitsplan sehr detailliert ausfallen. Vor der EU steht die Aufgabe, ihre wirtschaftlichen und politischen Werte in zäher Kleinarbeit immer tiefer in der russischen Erde zu verankern, eine ebenso notwendige wie unbequeme Arbeit für alle Beteiligten. Mit absehbaren Enttäuschungen auf beiden Seiten.