Welches EU-Land zahle einem Single jeden Monat einen Haushalts- und Mietzuschuss in Höhe von knapp 1 400 Euro netto plus Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, „ohne dass man einen Finger dafür krumm machen müsste“, fragte der Finanznachrichtendienst Gomopa.net vor zwei Wochen listig, um dann selbst die Antwort zu geben: Luxemburg. Der Internet-Nachrichtendienst erscheint dubios, ihm wurde Rufschädigung vorgeworfen und er war Gegenstand kritischer Presseberichte. Dubios wirkt auch sein Bericht über Luxemburg als das etwas andere Paradies: Unter der Überschrift „EU-Paradies zahlt jedem Einwohner Hartz IV de luxe“ wird beschrieben, wie man sich anlegen müsse, um in Luxemburg ein bequemes Leben in der sozialen Hängematte zu führen.
„Wer nicht in Luxemburg wohnt und nie hier gearbeitet hat, hat keinen Anspruch auf RMG“, schmettert Fabienne Schroeder derlei Ansinnen ab. Die Assistante sociale vom Sozialämterverbund im Norden, Resonord, und ihre Kollegen erhalten geschätzte zehn Anrufe pro Woche, in denen sich EU-Ausländer erkundigen, wie sie in den Genuss des Revenu minimum garanti (RMG) kommen. Die meisten der Anrufer stammen aus Belgien oder Deutschland. Schroeder erklärt dann höflich, aber bestimmt, dass die Chancen auf einen positiven Bescheid „äußerst gering“ seien. Auch den umgekehrten Fall gibt es: Luxemburger, die ins Ausland ziehen, weil ihnen die Lebenshaltungskosten hier zu teuer sind – und die fälschlicherweise davon ausgehen, im Ausland weiter RMG beziehen zu können. „Auch ihnen müssen wir sagen, dass das so nicht geht“, betont Schroeder.
Dass es unter den rund 9 900 Bedürftigen, die der Inspection générale de la sécurité sociale (IGSS) zufolge RMG erhalten, das eine oder andere schwarze Schaf geben mag, ist nicht erst Thema, seitdem in Europa über „Sozialtourismus“ polemisiert oder in deutschen Fernsehshows „Sozialdetektive“ Jagd auf vermeintliche Hartz IV-Betrüger machen. Der Luxemburger Fonds national de solidarité (FNS), zuständig für die Gewährleistung von Sozialleistungen wie RMG, Behindertenzuschlag oder die so genannte Mammerent, unterhält seit 2009 einen eigenen Service répression des fraudes et recouvrement.
Aber erst mit der DP-LSAP-Grünen-Koalition hat die Überprüfung von Sozialtransfers die politische Debatte erreicht und steht nun ganz oben auf der Liste der Absichtserklärungen. Sobald der État des lieux abgeschlossen ist, unterstrich Finanzminister Pierre Gramegna (DP) bei der Vorstellung seines Haushaltsentwurfs für 2014 am Mittwoch im Parlament, werde die Regierung Einsparmöglichkeiten im Sozialbereich prüfen. Eine der ersten Amtshandlungen der DP-Familienministerin Corinne Cahen war es, ein Screening aller Sozialleistungen in Auftrag zu geben. Bis Sommer sollen Ergebnisse vorliegen, die die Grundlage für Sparmaßnahmen bilden.
Dass das bestehende Regime des RMG geändert wird, hatte schon die vorige CSV-LSAP-Regierung auf Druck der Arbeitgeber beschlossen. Statt eines Pauschalbetrags soll es künftig einen Basissatz geben, der um einen Mietzuschuss ergänzt und gegebenenfalls angepasst würde. Wie hoch der Sockel ausfallen wird, ist unklar, auch andere Details fehlen noch. Bei ihrem Antrittsbesuch im parlamentarischen Familienausschuss setzte Ministerin Cahen den Akzent woanders: Die neue Regierung werde den RMG-Bezug stärker kontrollieren, soll heißen: energisch gegen Sozialmissbrauch vorgehen.
Mehr als 20 Millionen Euro Rückforderungen gehen dem FNS alljährlich durch falsche Angaben und falsch ausbezahlte Bezüge durch die Lappen, ist im Tätigkeitsbericht des Fonds von 2013 nachzulesen, davon entfallen rund 18 Millionen allein auf den RMG. „Das sind nur die Summen, über wir Bescheid wissen“, betont Claude Schranck. Der Verwaltungschef des Fonds national de solidarité ist förmlich: „Auch in Luxemburg missbrauchen einige wenige den Sozialstaat.“
Irrtümlich falsche Angaben fallen oft schon auf, wenn der Sachbearbeiter mit dem Antragsteller gemeinsam die Papiere durchgeht. Um sprachliche Missverständnisse zu vermeiden, können RMG-Bezieher zwischen den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch oder Luxemburgisch wählen. Wer einen Antrag stellt, muss seine Einkommens- und Wohnsituation offenlegen: Wo er oder sie wohnt und mit wem, wann er oder sie das letzte Mal gearbeitet hat, ob es Rücklagen oder Vermögenswerte wie Häuser oder Grundstücke gibt.
Die persönlichen Angaben werden mit den Daten anderer Behörden, wie der Adem oder der Sozial- und Krankenversicherung abgeglichen. „Dabei kann es zu zeitlichen Verzögerungen kommen“, so Schranck. War jemand jahrelang arbeitslos und auf staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, hat nun aber eine Arbeit gefunden, dauert es meistens eine Zeit, bis der Fonds davon erfährt. Viele Arbeitgeber melden das neue Beschäftigungsverhältnis nicht sofort. Weil das garantierte Einkommen im Voraus, zu Beginn des Monats ausbezahlt wird, um Härten bei der Miete und dem Lebensunterhalt zu vermeiden, landet Geld auf dem Konto, ohne dass die geänderten Einkommensverhältnisse vom Fonds berücksichtigt wurden. „Allein diese zu viel ausbezahlten Beträge summieren sich jedes Jahr auf fast 17 Millionen Euro“, so Schranck.
Neben den Zuviel-Zahlungen, die der Fonds systematisch eintreibt, gebe es auch „echten“ Missbrauch. „Der geschieht leider aus schlechter Absicht“, berichtet Luc Ricciardi, Leiter des Service répression des fraudes et recouvrement. Wer Hilfe zum Lebensunterhalt erhält, muss in Luxemburg nicht nur gemeldet sein, sondern unter der angegebenen Adresse tatsächlich wohnen. Das festzustellen, ist für den Sachbearbeiter, der den Antrag auf dem Bildschirm im Büro bearbeitet, nicht leicht. „In Luxemburg-Stadt braucht niemand einen Mietvertrag vorzulegen, wenn er sich anmelden will, was unsere Kontrollen zusätzlich erschwert“, sagt Ricciardi. So können Antragsteller, ähnlich dem Prinzip der Scheinfirmen, fiktive Adressen angeben, um so ohne Not von den 1 348,18 Euro pro alleinstehendem Erwachsenen plus einer einmalig pro Jahr ausgezahlten Teuerungszulage zu profitieren. Manche Gemeinden haben einen vertikalen Kataster, in dem zumindest die Gebäudegröße und die Anzahl der Wohnungen nachgeschaut werden kann.
„Kommt uns eine Adresse verdächtig vor, überprüfen wir sie“, erklärt Ricciardi. Gemeinsam mit der Polizei fahren er und sein Kollege beim Antragsteller vor und klingeln an der Haustür. Irgendwann zwischen 6 Uhr 30 morgens und 20 Uhr abends. Unangemeldet. Anders als in Deutschland, wo die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt, müssen RMG-Bezieher die Kontrolleure ins Haus lassen. „Viele wissen das nicht und fangen an, mit uns zu diskutieren. Dabei ist das auch für uns nicht angenehm. Da hilft es, dass die Polizei dabei ist“, berichtet Kontrolleur Ricciardi. Noch lieber wäre ihm allerdings ein Statut als Agent judiciaire, das seine Mission zusätzlich absichern würde, ähnlich wie die Kontrolleure des Familienministeriums oder der Inspection du travail et des mines es haben. Gemeinsam mit den Kollegen kontrolliert Ricciardi jedes Zimmer und jeden Schrank: Ist die Wohnung wirklich bewohnt? Oder kassiert jemand RMG, obwohl er bei seiner berufstätigen Freundin lebt oder er ein Zimmer untervermietet hat? Versucht jemand, sein RMG durch Schwarzarbeit aufzupolieren?
Insbesondere bei Cafézimmern sind Mehrfachanmeldungen keine Seltenheit. „Dort wird auch mal 200 Euro bezahlt, um eine fiktive Adresse zu haben. In Wirklichlichkeit wohnt die Person aber in Deutschland, Frankreich oder anderswo“, verrät Ricciardi die typischen Tricks. Sogar den Klischee-Sozialbetrüger gab es, der es sich am Südseestrand gut gehen ließ, wenngleich sehr selten. Als Ricciardi einen RMG-Bezieher, nachdem er ihn mehrfach nicht zuhause angetroffen hatte, zwecks Überprüfung per Einschreiben vorlud, flog der Dauerurlaub auf Staatskosten auf: „Der Stempel in seinem Reisepass hat ihn verraten“, sagt Ricciardi schmunzelnd. Versteckt sich jemand innerhalb der EU, gestaltet sich die Suche schwieriger. Oft sind es unbeantwortet gebliebene Amtsbriefe und Vorladungen, die erste Hinweise geben. Oder ein Anruf durch einen Dritten. „Gut die Hälfte aller entdeckten Irregularitäten gehen auf Denunziation durch Nachbarn oder Angehörige zurück“, weiß Ricciardi. 444 Anträge auf RMG wurden vergangenes Jahr überprüft, bei 39 Prozent gab es Unregelmäßigkeiten. „Dabei handelt es sich nicht immer um Missbrauch“, betont der Kontrolleur. Am häufigsten sind falsche oder fehlende Angaben bezüglich des Wohnsitzes, gefolgt von Fehlern bei der Angabe der Haushaltsgröße, etwa wenn mehr Kinder gemeldet werden, als tatsächlich im Haushalt leben. 13 Prozent sind falsche oder fehlende Einkommensangaben, dazu zählt auch verheimlichte Lohnarbeit. Um Irregularitäten besser aufzudecken, fordert Verwaltungschef Claude Schranck, den Hausbesuch systematisch bei jedem Erstantrag auf eine Sozialleistung einzuführen. Bisher geschieht dies nur bei konkretem Verdacht.
Luc Riccciardi wirkt im Gespräch besonnen und unaufgeregt. Als ehemaliger Kontrolleur der Finanzaufsicht CSSF hat er einiges gesehen. Die Unverforenheit, mit der einige wenige versuchen, unberechtigt Vorteile aus dem Sozialstaat zu schlagen, überrascht mitunter aber selbst den erfahrenen Fahnder. Unter einer Adresse in Luxemburg-Stadt waren 55 RMG-Bezieher angemeldet. Als Ricciardi und sein Kollege das Haus überprüften, stellten sie fest: Es gab dort nur vier Wohnungen. In den ersten drei wohnten elf Personen. Die anderen 44 waren in der vierten Wohnung angemeldet: die Tür öffnete eine alleinerziehende Mutter, die angab, den Arbeitern nur helfen zu wollen. „Es ist etwas anderes, wenn Leute, die in Not sind, eine falsche Angabe machen oder wenn jemand im großen Stil schummelt“, sagt Ricciardi. Die Strafe folgt meist auf dem Fuße: Der RMG wird gestoppt, jeder Missbrauch kommt zur Anzeige. Unrechtmäßig erhaltenes Geld muss zurückerstattet werden.
Dass sich die Kontrollen lohnen, zeigen die Zahlen, obwohl von den 18 Millionen Ausstand laut Schranck nur ein kleiner Teil, rund 1,5 Millionen, auf strafrechtlich relevanten Missbrauch zurückgeht. Genau aufgeschlüsselte Zahlen über Sozialleistungsbetrug gibt es in Luxemburg aber bislang nicht, ausländischen Studien zufolge liegt die Missbrauchsquote je nach Kontrolldichte zwischen zwei und zehn Prozent. Bei einem Gesamtetat von 330 Millionen Euro, den der Fonds verwaltet, wäre das gleichwohl eine erkleckliche Summe.
Umso erstaunlicher ist es, dass es die Politik es offenbar viele Jahre lang nicht für nötig hielt, etwas gegen ausstehende Rückforderungen und den Missbrauch von Leistungen zu unternehmen. Als der Service de recouvrement ins Leben gerufen wurde, geschah dies, weil ein neuer Direktor Ausstände wirksamer eintreiben wollte. Die Anti-Betrugseinheit wurde erst ins Leben gerufen, nachdem der Rechnungshof dies in einem seiner Prüfberichte anmahnt hatte. Vier Mitarbeiter wurden eingestellt, um eventuelle Irregularitäten aufzuspüren, zwei studieren präventiv Akte um Akte auf Fehler hin, die beiden anderen kontrollieren vor Ort. Seitdem wurde der Dienst nicht mehr aufgestockt. „Wir haben zusätzliches Personal angefordert, ohne Erfolg“, so Schranck frustriert.
Zwar überprüfen gelegentlich auch Sozialämter in den Gemeinden vor Ort, wenn ihnen ein Fall nicht plausibel erscheint. Aber die Rechtslage der Sozialarbeiter ist schwieriger, sie sind ans Berufsgeheimnis gebunden. „Ausnahmen gelten nur bei Verdacht auf ein Verbrechen“, erklärt Fabienne Schroeder von Resonord. Sie und ihr Team können dem Fonds daher nicht einfach verdächtige Fälle melden, obwohl Schroeder sich „mehr Flexibilität beim Berufsgeheimnis“ wünscht und sie persönlich verstärkte Kontrollen begrüßen würde: „Das Fehlverhalten einiger weniger beschädigt den Ruf der anderen. Das öfffentliche Bild des RMG-Beziehers ist schon kein gutes“, bedauert die Assistante sociale. Sie kennt die Not ihrer Klienten: „Den meisten geht es wirklich nicht gut.“ Unter den rund 19 800 Personen, die in Luxemburger RMG-Haushalten wohnen, sind etwa 6 300 Kinder unter 18 Jahren. Rund 40 Prozent der RMG-Bezieher haben kein reguläres Einkommen. Besonders vom Armutsrisiko betroffen, sind Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern.
Doch anders als in Deutschland, wo eine aggressive Stimmung gegenüber Hartz-IV-Bezieher herrscht, von Medien teils in unverantwortlicher Weise geschürt, und wo ein Heer von Kontrolleuren die Leistungsempfänger überwacht, so dass Experten inzwischen bezweifeln, ob sich der finanzielle Aufwand noch lohnt, ist die Lage in Luxemburg eine andere: „Das Gehalt unserer Mitarbeiter holen wir jedes Jahr um ein Vielfaches wieder herein“, betont Claude Schranck. Dass Missbrauch nicht nur bei RMG-Beziehern vorkommt, sagt er selbst, und das sieht auch Ex-CSSF-Kontrolleur Ricciardi so. Ebenso, dass die allermeisten RMG-Bezieher die staatliche Hilfe zum Leben brauchen. „Aber das Geld, das wir zu viel und zu Unrecht an die Falschen ausbezahlen, fehlt an anderer Stelle“, rechtfertigt Schranck seine Forderung nach mehr Kontrollen. Zumal die Anträge auf die Teuerungszulage in den vergangenen Jahren in die Höhe geschnellt seien, von „rund 6 000 im Jahr 2002 auf zuletzt 27 000“. Um den Andrang zu bewältigen, habe der Fonds zwei feste Mitarbeiter zusätzlich erhalten, so Schranck.
Es sei ihr „absoluter Wunsch“, den FNS personell aufzustocken. Einen entsprechenden Antrag habe sie dem Finanzminister unterbreitet, schreibt Familienministerin Corinne Cahen auf Land-Nachfrage. Ob der gut angekommen ist? Bei der Vorstellung des Budgets 2014 am Mittwoch kündigte Finanzminister Pierre Gramegna an, die Zahl der Einstellungen beim Staat für 2014 auf 150 begrenzen zu wollen. Und sprach in dem Kontext von neuen Lehrerstellen. Das klingt eher so, als müssten der Fonds und die Familienministerin sich weiter gedulden.