Wer gedacht hat, nach neun Jahren Delvauxscher Reformpolitik würde unter Rot-Blau-Grün Schluss gemacht mit Strukturreformen, hat sich geirrt. Nachdem beim Werteunterricht rasch Einigkeit herrschte, haben sich die Koalitionäre auch darauf verständigt, die geplante Reform des Sekundarunterrichts durchzuziehen – und zwar auf Grundlage des ursprünglichen Textes, den die scheidende LSAP-Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres nach neunmonatigen Verhandlungen dem Parlament vorgelegt hatte.
Der Text soll zwar überprüft und angepasst werden, aber die großen Linien bleiben. Es geht darum, das, was in der Grundschule begonnen wurde, auf der Sekundarstufe fortzuschreiben, wenn auch der Kompetenzansatz vereinfacht werden soll.
Der neue Minister Claude Meisch und sein Staatssekretär André Bauler, die außer Bildung auch Jugend und Kindheit, sowie das Hochschulministerium und die Innovation verantworten, setzen dabei vor allem auf die Schule und den einzelnen Lehrer. Statt Zentralismus soll ihre Autonomie im Mittelpunkt der Reformen stehen, wobei noch unklar ist, wie diese konkret ausgestaltet wird. Neben Finanzen sollen Schulen über Schulbücher entscheiden und eigene „Identitäten“, sprich Spezialgebiete, ausbilden. Die Motivation des Lehrers und sein didaktisches Können sind ein weiterer Eckpunkt in der blauen Schulpolitik, wobei die neuen didaktischen Materialien erst noch entwickelt werden müssen.
Eine verbesserte Didaktik im Sprachenunterricht ist wichtig, insbesondere im Französischen. Angehende Lehrer sollen stärker auf ihre Eignung geprüft und methodisch und didaktisch besser ausgebildet werden. Die neue Regierung sieht die Sprachendefizite vieler Schüler als die große Herausforderung und will ein Modellversuch mit Alphabetisierung auf Französisch in der Grundschule starten. Der Précoce soll überdacht werden und außerschulische Angebote, wie die Maisons relais, enger mit der Schule verzahnt werden, ein Grund, warum die Ressorts Jugend und Kindheit zum Schulministerium hinzugeschlagen wurden. Die Berufsausbildung soll sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch angeboten werden.
Ansonsten werden die Items, anhand derer die Kompetenzsockeln in der Grundschule und im unteren Zyklus des Sekundarunterrichts bestimmt werden, reduziert, das heißt, die Benotung wird vereinfacht. Wobei das Problem der mangelnden Differenzierung im Unterricht, um den unterschiedlichen Schülern gerecht zu werden, damit nicht gelöst ist. Apropos Differenzierung: Die so genannte Éducation différenciée will die Regierung in die Regelschule integrieren. Unter Mady Delvaux-Stehres wurden beide Systeme zwar einander angenähert, aber die von der UN-Behindertenrechtskonvention erforderte Inklusion fand kaum statt. Die Rechte von Behinderten nehmen einen nie gehabten Stellenwert in dem Familien- und Integrationsministerium ein, das von DP-Überfliegerin Corinne Cahen geleitet wird. Damit werden elementarste sozialpolitische Themen allesamt von der DP verantwortet, zu einem Zeitpunkt, da der Staat verschuldet ist und die Regierung deutliche Sparmaßnahmen angekündigt hat.
Im Familienministerium steht die nächste Reform des Elternurlaubs auf dem Programm, mit dem Ziel, diesen zu flexibilisieren und für Väter interessanter zu machen. Das Mindesteinkommen RMG soll in einen Basissatz und zusätzliche Leistungen, etwa für Kinder und für die Miete, unterschieden werden. Zudem plant Blau-Rot-Grün eine komplette Revision des ASFT-Gesetzes, die Regierung sieht im Sozialsektor offenbar Einsparpotenzial. Grüne und DP hatten die mit dem Gesetz zur Jugendhilfe verstärkte Bürokratie des Office national de l’enfance sowie die fallbezogene Finanzierung wiederholt kritisiert. Eben diese finanzielle Unterstützung soll überprüft werden, Dasselbe gilt für die familienbezogenen Leistungen, wobei Sachleistungen den Vorrang gegenüber Geldleistungen bekommen sollen. Auf lange Sicht strebt die Regierung eine Gratis-Kinderbetreuung an – unter dem Vorbehalt, dass sie finanzierbar sein muss, wie der neue Premier Xavier Bettel betonte.
Die Erziehungshilfen und der Jugendschutz sollen verbessert werden, wobei übrigens der Kinderrechtsbeauftragte künftig direkt dem Parlament unterstellt werden soll. Statt einer Einweisung in ein Jugendheim setzt die neue Regierung auf dezentrale Strukturen wie Wohngruppen oder Pflegefamilien. So viel Autonomie wie möglich soll auch der Leitsatz für ältere Menschen sein: Neben Altersheimen sollen andere Wohnkonzepte wie Mehrgenerationenhäuser und Wohngemeinschaften angeboten werden.