Eigentlich ist es eine Entwarnung. Nicht Jugendliche hätten die sieben Autos am Wochenende in Esch-Alzette angezündet, sondern ein Brandstifter, der schon länger sein Unwesen treibe, vermutete der Pressesprecher der Polizei, Vic Reuter, am Dienstag. Damit könnte die Debatte um die Südstadt, entzündet vom Tageblatt-Journalisten Francis Wagner, ein Ende haben, der prompt einen „Ghettoisierungsprozess“ in seiner Heimat beklagte. Hat sie aber nicht.
In den sozialen Netzwerken und in Leserbriefen bekommt der Journalist für seinen polemischen Beitrag, der „immer weniger Esprit civique“ und „eine überbordende Vulgarität“ beklagt, viel Zustimmung. Wer sich auf der Straße in Esch umhört, wird viel beifällige Bemerkungen hören: über „de Knascht“ und „de Kameidi“. Eine ältere Dame, seit über 20 Jahren in Esch lebend, fürchtet sich, abends vor die Tür zu gehen. Zu viele alkoholisierte, gröhlende Jugendliche bevölkerten dann die Straßen.
Die Brandstiftungen seien isolierte Fälle, man dürfe „dies nicht verallgemeinern“, versuchte Bürgermeisterin Lydia Mutsch im Tageblatt ihrerseits zu besänftigen. Auch der Polizeidirektor der Südregion zeichnete gegenüber dem Land ein differenzierteres Bild: „In Ballungsgebieten gibt es immer mehr Konflikte. Und Esch ist ein Ballungsgebiet“, weiß Donat Donven. In den vergangenen Jahren habe die leichte Kriminalität landesweit zugenommen, „auch in Esch“. Darunter fielen Taten wie Autoeinbrüche oder Diebstahl. Auch bei Unruhestiftungen und Kloppereien würden Beamten gerufen, allerdings müsse man „das im Verhältnis zur größeren Dichte von Bars sowie der Bevölkerungszahl sehen“.
Das klingt nicht nach Verwahrlosung. Für den Großstädter aus dem Ausland, der durch die Alzette-Straße bummelt, bleibt die Südmetropole eine beschauliche, industriell geprägte Kleinstadt. Auf dem Weg zum Brillplatz diskutiert ein junges Paar. Es fliegen Wortfetzen, einen Moment lang sieht es so aus, als würde die Frau ihren Partner schlagen wollen. Die aufgeregte Szene löst sich erst auf, als der Mann klein beigibt. Passanten, die die Auseinandersetzung beobachtet haben, gehen kopfschüttelnd weiter. Auf einer Bank vor einem Bekleidungsgeschäft sitzt ein Obdachloser, der betrunken vor sich hin brabbelt. Bei Einbruch der Dunkelheit füllen sich die Nebenstraßen, eine Mutter schreit einen Jungen an, der trödelt, ein Mädchen spuckt auf den Gehweg. Das ist vielleicht lästig, aber für eine Stadt nicht untypisch.
Die Lage objektiv einzuschätzen, ist schwierig. Der Tageblatt-Autor versuchte gar nicht erst, seine Vorwürfe vom vulgären „Lumpenproletariat“ und „Gewalt“ zu belegen. Die vom Land befragte Polizei hat keine regional aufgeschlüsselten Zahlen. Oder sie gibt sie nicht heraus. Das erstaunt, ist doch die 32 000-Einwohnerstadt die zweitgrößte im Land. Daten müssten verfügbar sein, zumal die rot-grüne Gemeindeführung Transparenz versprochen hat.
Aber Worte sind eben nicht Taten. Die Gemeinde erstellte 2004 einen lokalen Sicherheitsplan. Unter Leitung derselben Bürgermeisterin wurden gemeinsam mit der Polizei und anderen Diensten neuralgische Zonen identifiziert, etwa am Bahnhof oder im Laval-Park, und Maßnahmen für mehr Sicherheit vorgeschlagen, wie verbesserte Beleuchtungen und mehr Polizei. Doch obwohl die Ideen niedergeschrieben wurden, ist die für 2006 versprochene Auswertung unauffindbar. Auch wiederholte Anrufe bei der Gemeinde bleiben unbeantwortet. Das ist es vielleicht, was Bürger meinen, wenn sie sagen, die Stadt gehe Beschwerden zu wenig nach.
Jetzt ist dagegen Aktivismus angesagt: Das Comité de prevention, das als Plattform für Sicherheitsfragen gilt, soll am 20. November tagen. Gefragt, wann die letzte Sitzung war, kann sich der Polizeidirektor nicht erinnern. Die Sitzungen zweimal jährlich, die das Gesetz vorschreibe, würden nicht eingehalten. „Das ist aber auch anderswo so“, so der Beamte, der sich lieber anlassorientiert zusammensetzen will. Schon, um „noch mehr Bürokratie“ zu vermeiden. Das sei ein Problem. Die Escher Polizei ist zudem für die gesamte Südregion zuständig, trotz Aufstockung sei der Personalschlüssel eng. „Aktuelle Notrufe haben immer Vorrang“, betont Donat Donven. Da wird auch mal eine Patrouille aus der Innenstadt zum Verkehrsunfall oder Einbruch abgezogen.
Untätigkeit kann man den Verantwortlichen pauschal nicht vorwerfen. Esch hat als zweite Gemeinde im Land einen Jugendkommunalplan, der im nächsten Jahr ausläuft. Ein Seniorenplan, basierend auf einer Umfrage der über 55-Jährigen, soll demnächst vorgestellt werden. Da werde auch das Sicherheitsempfinden thematisiert, verspricht Sozialschöffin Vera Spautz. Die Jugend, die sich nicht zu benehmen weiß, Eltern, die Kinder nicht erziehen, werden oft gerade von älteren Bewohnern verantwortlich für den Sittenverfall gemacht. Tiefer gelegte Autos, die ihre Runden drehen, gibt es in Esch eine Menge. Auch Halbstarke, die sich auf der Straße oder in Eingängen tummeln. Aber bedeutet das gleich mehr Gewalt? An zwei, drei Ecken stehen halbseidene Gestalten, am Bahnhof und auf der anderen Seite der Bahntrasse Richtung Galgenberg.
„Sicher gibt es Jugendliche, die Cannabis konsumieren“, sagt Jorsch Kass vom Jugenddienst der Stadt. Das sei nichts Neues. Der Trend zum Joint ist laut nationalem Drogenbericht landesweit, das bestätigt die Polizei: „In der Stadt gibt es die Verkaufsstrukturen eher. Und wo ein Angebot ist, ist auch eine Nachfrage“. „Esch ist leider keine Ausnahme“, sagt Spautz nickend, aber eine regelrechte Drogenszene wie in der Hauptstadt gebe es nicht. Soll heißen: kein Rotlichtmilieu direkt am Bahnhof. Dafür aber ein Obdachlosenasyl Abrisud, eine Fixerstube ist geplant: „Diese Menschen sieht man auch auf der Straße“, so Spautz.
Die Escher Schöffin kennt die sozialen Probleme gut. „Natürlich bekommen wir die Auswirkungen der Wirtschaftskrise hier stärker zu spüren“, so die LSAP-Politikerin. Der Wandel von der Industrie- Hochburg zum Dienstleistungsstandort hat Spuren hinterlassen und ist nicht abgeschlossen. Im Süden wohnen mehr Arbeiter, viele sind in der Stahlindustrie tätig. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sind hier höher als im Landesdurchschnitt, bei der Jugend beträgt sie über 20 Prozent. Die Folgen stehen im Jahresbericht von 2011 des Sozialamts: Überschuldung, die höchste Quote von RMG-Empfängern. Die Wohnungsnot ist ein Dauerbrenner, die die Gemeinde trotz verstärkten Anstrengungen nicht in den Griff bekommt. Die Wartelisten für die rund 400 gemeindeeigenen Wohnungen sind lang. Initiativen wie die soziale Wohnungsagentur wiederum nähmen kaum Leute aus Esch auf, weil sie die Gemeinde in der Pflicht sehen.
„Wir müssen mehr Jugendwohnungen bauen“, sagt Jorsch Kass. Nicht nur Studentenwohnungen, wo die künftige Universitätsstadt Esch fast die Hälfte des landesweiten kommunalen Angebots stellt. Der Leiter des Escher Jugenddienstes sieht trotz Jugendkommunalplan, mehr Fortbildungs- und Freizeitangeboten Handlungsbedarf: Die aufsuchende Jugendarbeit steht im Koalitionsprogramm, umgesetzt wurde sie bisher nicht. Kass wirbt für Verständnis für die Jugend: Viele wohnen in beengten Verhältnissen, „da bleibt Streit nicht aus“. Das, und vielleicht kulturelle Gepflogenheiten sind der Grund, dass viele Jugendliche auch nach der Schule draußen bleiben. Im Bonneweg in der Hauptstadt sind auch mehr Menschen auf der Straße als in Limpertsberg oder Cents.
Thematisiert werden die unterschiedlichen Bedürfnisse, Möglichkeiten und Gewohnheiten einer derart vielfältigen Bevölkerung aber wenig. Der Tageblatt-Schreiber polemisiert gegen ein „Lumpenproletariat“, das sich nicht zu benehmen wisse. Das klingt im schlimmsten Fall nach Ressentiments gegen Arme, im besten Fall ist es ein Alarmsignal dafür, dass die Vielfalt der Stadt an ihre Grenzen stößt. Und die Toleranz mancher Bewohner. Esch ist eine Arbeiterstadt. Die Stahlindustrie und die Aussicht auf ein besseres Leben lockten viele Menschen aus dem Süden Europas in die Stadt, heute noch. Bald schon dürfte Esch die 40 000-Einwohner-Marke knacken. Anders als in der Hauptstadt, wo im Zentrum Geschäftsräume Bewohner von der Mitte der Stadt an den Rand gedrängt haben, wohnen in Esch Luxemburger, Portugiesen, Italiener, Kapverdianer mitten im Stadtkern.
Das ist es vielleicht, was die Stadtführung unterschätzt: Dass das Nebeneinander verschiedenster Bevölkerungsgruppen nicht automatisch ein Miteinander ist. Zumal in Krisenzeiten. Wer durch die Stadt schlendert, dem fallen scharfe Gegensätze auf engstem Raum auf. Der üppige Rathausvorplatz glänzt mit moderner Bushaltestelle, das neue Gerichtsgebäude strotzt als weißer wuchtiger Würfel. Die Sanierung des Theaters kostete Millionen, der Platz vor der Brillschule wurde ebenfalls nach langem Streit umgestaltet. Dort verbietet jetzt ein Schild das Ballspielen. Per Verordnung soll „ein harmonischeres Bild“ bei den Café-Terrassen entstehen. Plakate werben derweil für die Uni, deren Umzug auf sich warten lässt. Nur einen Straßenzug weiter aber ist der Straßenbelag aufgeplatzt, drängen sich Autos und Menschen dicht an dicht. Am Bahnhof und in Al Esch finden sich mehr Häuser, an denen die Fassade bröckelt, wo überfüllte Müllcontainer am Straßenrand stehen oder der Müll auf die Straße geworfen wird.
Im Ausland gibt es Quartierläden, die als Bürger-Treffpunkte dienen, wo Nachbarschaftskonflikte besprochen werden und die Annäherung zwischen unterschiedlichen Interessengruppen professionell organisiert wird. Und zwar so, dass sich möglichst viele angesprochen fühlen. Dezidiert interkulturelle Projekte gibt es aber in ganz Luxemburg noch wenige, obwohl Luxemburg den höchsten Ausländeranteil im gesamten EU-Raum hat. Esch probiert Ähnliches, etwa mit den Nachbarschaftsfesten. Sie hängen aber von der Initiative Einzelner ab. „Vielleicht sollte man das institutionalisieren“, überlegt Jorsch Kass. Zielgerichtete Angebote gibt es: in den Vereinen, in den Maisons relais, bei den Kulturangeboten. Aber vielleicht noch zu wenig? Der Jugenddienst will sich demnächst mit dem Comité Spencher treffen. Das Komitee wurde ins Leben gerufen, als 2002 ein kapverdischer Jugendlicher nach einem Diskobesuch erstochen wurde. Die Zusammenarbeit war schon vor dem Erscheinen des polemischen Tageblatt-Artikels geplant. Das ist erfolgversprechender: kontinuierliche Angebote statt vorübergehender Aktivismus und Polemik.