Am Ende geschah es doch: Als am Mittwoch vergangener Woche die 7. Strafkammer des Bezirksgerichts Luxemburg ihre Entscheidung in der elf Jahre zurückliegenden „Hepatitis-Affäre“ der damaligen Clinique Sainte-Élisabeth verkündete, wurden wegen fahrlässiger Körperverletzung auch sechs Ordensschwestern verurteilt. Mit der einstigen Generaldirektorin der Klinik erhielt eine der Elisabetherinnen sogar eine zweimonatige Gefängnisstrafe auf Bewährung.
Aber nicht nur, dass in einem Strafprozess um ein Krankenhaus Nonnen für schuldig befunden wurden, gab es hierzulande bisher noch nie. Ebenfalls zum ersten Mal hat ein Strafgericht einen Klinik-Verwaltungsrat verurteilt. Das könnte politische Konsequenzen haben. Denn das Urteil der 7. Strafkammer wirft bis hinauf zu den Verwaltungsräten die Frage auf, wer in den Luxemburger Spitälern wofür haftbar ist.
Als im Frühjahr 1999 die Öffentlichkeit von einer „Hepatitis-Affäre“ in der Clinique Sainte-Élisabeth erfuhr, war es die Geschichte dreier Patienten, die zwischen Mitte Mai und Anfang Juni 1998 in dem damals nahe der Luxemburger Stäreplaz gelegenen Krankenhaus operiert worden waren und sich dort mit Hepatitis C infiziert hatten. Und es war die Geschichte jener Patientin, die ebenfalls unter Hepatitis-Verdacht stand, es von der Klinik aber nicht mitgeteilt bekam. Erst Monate später erfuhr sie in einem anderen Krankenhaus von ihrer Infektion. Als die Patientin daraufhin die Clinique Sainte-Élisabeth bei der Gesundheitsdirektion anzeigte und so eine amtliche Kontrolle auslöste, wurde die Geschichte öffentlich.
Zum damaligen Zeitpunkt aber war der erste Teil der Affäre schon abgeschlossen und die Direktion des Kongregationsspitals ahnte längst, auf welchem Weg das Hepatitis-Virus in ihrem Haus vermutlich übertragen wurde: Anfang Mai 1998 hatte man eine mit Hepatitis C infizierte Patientin operiert, und assistiert dabei hatte ausgerechnet jener Anästhesiepfleger, den die Direktion schon seit dem Spätherbst 1997 verdächtigte, sich dann und wann aus den Schmerz- und Betäubungsmitteln, die für die Narkose zu Operierender gedacht waren, zu bedienen. Unzureichende Kontrollen in der Klinik machten es möglich.
Diese Version, die schon vor zehn Jahren in der Öffentlichkeit kursierte, sah das Bezirksgericht Luxemburg vergangene Woche tatsächlich als erwiesen an. Es erkannte in dem Anästhesiepfleger, der Spritzen austauschte, der in die Infusionsbeutel im OP-Saal hinein stach und einen Teil der Substanz absaugte; der sich beim Umgang mit schon benutzten Spritzen mit Gelbsucht infizierte und sie später an insgesamt fünf Patienten weitergab, die „Quelle“ dieser fahrlässigen Körperverletzungen.
Das Gericht schrieb die Affäre jedoch fort als Aufsichts-Versagen der Klinik-Hierarchie. Ihre Aufsichtspflicht verletzt hätten zwei Anästhesie-Ärzte: Anders als ein dritter Kollege waren sie selbst dann zur weiteren Zusammenarbeit mit dem Pfleger im Operationssaal bereit, als die Indizien gegen den Verdächtigten sich klinikintern häuften. Da die drei Anästhesisten der Clinique Sainte-Élisabeth derart uneins waren, fiel es der Klinikdirektion, die offenbar stärker um den Ruf des Spitals als um die Sicherheit ihrer Patienten besorgt war, umso leichter, die Angelegenheit „diskret“ zu behandeln und den Pfleger nicht einmal hausintern an einen anderen Arbeitsplatz zu versetzen. Entlassen wurde er erst, als die Direktion zu ahnen begann, dass es einen Zusammenhang geben könnte zwischen den Hepatitis-Infektionen und der vermutlichen Medikamentensucht dieses Mitarbeiters.
Dass das „Hepatitis-Urteil“ in Juristenkreisen „bemerkenswert“ genannt wird, hat jedoch vor allem damit zu tun, dass es den Verwaltungsrat der Kongregation Sainte-Élisabeth asbl einschließt. „Das ist ein Grundsatzurteil über die strafrechtliche Haftbarkeit eines Klinik-Verwaltungsrats“, findet der Rechtsanwalt Paul Mousel, „und sollte es ein Berufungsverfahren geben und die zweite Instanz die Entscheidung bestätigen – dann erst recht.“
Mousel weiß, wovon er spricht: Seit über zehn Jahre sitzt er der Verwaltungskommission des CHL vor. Denn die Richter der 7. Strafkammer haben erstmals in der Luxemburger Rechtsgeschichte den Verwaltungsrat eines Krankenhaus-Trägers mit dem eines beliebigen Unternehmens gleichgesetzt: Dass Zuständigkeiten delegiert werden, habe sich logischerweise mit der wirtschaftlichen Dezentralisierung entwickelt. Da ein Unternehmer – beziehungsweise ein Verwaltungsrat – nicht „überall“ sein kann, könne er von der Haftbarkeit für die Handlungen einer Direktion befreit sein. Vorausgesetzt, er weist nach, eine „délégation du pouvoir“ für das gesamte Tagesgeschäft an die Direktion vorgenommen zu haben, und dass die-se über die nötige Kompetenz, die erforderliche Autorität und über die notwendigen Mittel verfügte, um das Tagesgeschäft zu führen.
Haftbar könne ein Verwaltungsrat allerdings dann sein, wenn er die Direktion nicht gut genug kontrollierte oder unzureichende Vorkehrun-gen traf, „à prévenir la commission de certains types d’infraction que l’entreprise est particulièrement exposée à commettre en raison de la nature des activités“. Und obwohl der Verwaltungsrat der Elisabetherinnen eine „délégation du pouvoir“ an die Direktion der Klinik vorgenommen hatte, „rien n’aurait empêché et il incombait même au conseil d’administration de vérifier si la position adoptée par le comité de direction était adaptée à la situation“.
Die Aussicht, dass die Richter zu einer Einschätzung dieser Art gelangen könnten, hatte so manche Mitglieder von Klinik-Verwaltungsräten beunruhigt, ehe der Hepatitis-Prozess begann. Denn die Wahrscheinlichkeit, für einen medizinischen Fehler womöglich strafrechtlich mit belangt zu werden, scheint zuzunehmen.
Wenngleich es bei der Staatsanwaltschaft selbst keine Statistiken darüber gibt, beobachten sowohl Anwälte, als auch der Versicherer-Verband Aca, dass Patienten gegen vermutete medizinische Fehler immer häufiger bei der Staatsanwaltschaft klagen würden, statt zivilrechtlich vorzugehen. Was vielleicht daran liegt, dass für die Eröffnung eines Zivilverfahrens der Patient eine Expertise vorfinanzieren muss, die einem Arzt oder einer Klinik einen Fehler nachweist. Die Ermittlungen in einem Strafverfahren bezahlt dagegen der Staat.
Und selbst gestandene Verwaltungsratspräsidenten wie Paul Mousel fragen sich nun, „ob ein Ehrenamtlicher, noch dazu als Nicht-Mediziner“, so viel zu kontrollieren vermag, wie der Risikobetrieb Krankenhaus es erfordert, um einem Strafverfahren gegen die eigene Person vorzubauen. In einem großen Spital wie dem CHL fänden „ständig zwei bis drei Ermittlungen statt“, sagt Mousel. Dass demnächst auch hierzulande die strafrechtliche Haftbarkeit moralischer Person eingeführt wird, dürfte daran wenig ändern: Würde einem Spital der Prozess gemacht, würde nach wie vor nach der Verantwortlichkeit der Führungskräfte geforscht.
Der CHL-Verwaltungskommissionschef hofft, dass die neue Regierung tätig wird, um die strafrechtliche Haftbarkeit der Klinik-Verwaltungsräte zu klären. Dass die Regierung das tun könnte, ist nicht unwahrscheinlich, denn in allen Räten sind zum Teil sehr prominente Nicht-Mediziner Mitglied, die ihr Amt in erster Linie als Benevolat und Gefälligkeit verstehen. Unter ihnen sind Generalvikar Mathias Schiltz und Caritas-Direktor Erny Gillen, ArcelorMittal-Vorstandsmitglied Michel Wurth und Dexia-BIL-Direktor Fernand Wagener. Der Verwaltungskommission des Süd-Klinikums CHEM gehören nicht nur vier Vertreter von ArcelorMittal an, sondern mit Michel Wolter, Alex Bodry und Claude Meisch auch die aktuellen oder designierten Chefs der drei größten politischen Parteien.
Aber falls die Regierung nicht einen Grund erfinden will, um per Gesetz die Haftbarkeit der Klinik-Verwaltungsräte einschränken zu können, oder für deren Zusammensetzung Regeln erlässt, dann bestünde der plausibelste Ansatz darin, die hierarchischen Abhängigkeiten der Akteure in den Kliniken zu klären. Ärzte etwa werden in Luxemburg nicht von den Krankenhausdirektionen, sondern von den Verwaltungsräten eingestellt oder als Freiberufler an der Klinik zugelassen. Daraus folgt: Würde ein Arzt in einem Strafverfahren verurteilt, könnte nach der Lesart des „Hepatitis-Urteils“ ein Verwaltungsrat womöglich noch eher mit haften als die Direktion.
So ungeklärt wie das hierarchische Verhältnis zwischen Direktionen und Ärzten ist das zwischen Ärzten und Pflegepersonal: Die zwei Anästhesisten der Clinique Sainte-Élisabeth konnten ihre Aufsichtspflicht gegenüber einem Pfleger nur verletzen, weil eine großherzogliche Verordnung die Unterstellung der Anästhesie-Pfleger im OP-Saal unter einen Arzt festschreibt. Ähnlich untersteht ein Chirurgie-Pfleger im OP-Saal dem leitenden Chirurgen; abgesehen von solchen speziellen Situationen aber sind im Krankenhausalltag Medizin und Pflege zwei voneinander getrennte Welten.
Diese Konsequenzen aus dem Hepatitis-Urteil zu ziehen, ist für den alt-neuen Gesundheitsminister politisch herausfordernd: Wollte er die Ärzte stärker den Klinikdirektionen unterstellen, droht Ärger mit dem Ärzteverband AMMD. Wollte er das Weisungsrecht der Mediziner gegenüber dem Pflegepersonal ausweiten, droht Widerstand der Gewerkschaften. Vor allem vom OGB-L, der in der vergangenen Legislaturperiode hinter den Kulissen dagegen gekämpft hatte, dass ein médecin-coordinateur de service in einem Spital gegenüber dem Pflegepersonal weisungsberechtigt werden könnte.
Aber klarere Verantwortlichkeiten in den Kliniken wären andererseits eine Grundvoraussetzung für die eventuel-le Einführung des No-fault-Prinzips, für das vor allem die AMMD im vergangenen Jahr geworben hatte: Geschädigte Patienten würden im Regelfall nach einer Tariftabelle entschädigt, müssten einem medizinischen Dienstleister gleich welcher Art aber keinen Fehler mehr nachweisen und kämen ohne teure Expertisen aus. Ein System, dass ja vielleicht die „Klagelust“ von Patienten bei der Staatsanwaltschaft senken könnte.