Ein Mann im hohen Alter, Anthony, lebt in seiner Londoner Wohnung allein. Seine Tochter will für ihn Betreuerinnen anstellen, die auf ihn achten, ihn pflegen. Er weigert sich. Er glaubt, allein immer noch zurecht zu kommen, doch diese Selbstbehauptung wandelt sich zunehmend in ein Gefühl der Unsicherheit. Die Selbstbehauptung stellt sich allmählich als Selbsttäuschung heraus. Theaterkennern dürfte dieser Handlungsentwurf bekannt vorkommen, er verweist auf das erfolgreiche und preisgekrönte Theaterstück Le père von Florian Zeller über die Wahrnehmungen eines demenzkranken alten Mannes. Mit The Father hat Zeller das Stück für den Film adaptiert, mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle.
Da wo das Kino von Demenzerkrankung, Gedächtnisverlust und Erinnerung erzählt, kommen gerne Rückblenden oder Voice Over zum Einsatz: Still Alice oder noch jüngst, Viggo Mortensens Regiedebüt Falling sind Filme, die besonders auf das Evozieren von Nostalgie, von wehmütiger Rückbesinnung auf das Vergangene zielen. Nicht so in The Father: Der Film ist ganz – und das ist seine besondere Stärke – um die unmittelbare Gegenwart seiner Hauptfigur herum aufgebaut: Es ist Anthony, mit dem zu leiden ist, mit ihm ist zu weinen, aber auch zu lachen. Zeller achtet besonders darauf, uns an die Erlebniswelt dieses Mannes im hohen Alter anzubinden, vergisst aber nie das größere Bild. Ausgehend von den Verwirrungen dieses alten Mannes zeigt The Father eindringlich, welches Leid in diese Familie einkehrt, wie da die Tochter an ihrer Verzweiflung zu Grunde zu gehen droht. Seine eindringliche Intensität bezieht der Film aus dem Kontrollverlust. So wie diesem Anthony die Kontrolle über sein Leben, seine Erinnerung, seine Wahrnehmung von Zeit und Raum, von Gesichtern entgleitet, so entgleitet dem Zuschauer ebenso die narrative Transparenz des Films.
Die erzählerische Struktur des Films und seine visuelle Präsentation korrelieren in besonderer Weise mit dem Thema des Films. In bewegten Bildern wird uns präsentiert, was, so darf man vermuten, Anthonys Erlebniswelt, seine Denkstruktur sein mag: Wiederholungen, Überlagerungen, Verdichtungen, die so angelegt sind, dass da alles früher oder später auf die komplette Resignation hinauslaufen muss. Alltagsbegebenheiten, wie die Wahl des Abendessens, werden auf die Glaubensprobe gestellt: Soll es nun Hühnchen geben, wie die Tochter mit Einkaufstüten in den Händen meint? Wenn Anthony sich dann kurz darauf in der Küche nochmals danach erkundigt, weiß niemand etwas davon; und ja, man fragt sich, was denn nun stimmt. Die Frage nach Wahrheiten oder nach der Richtigkeit der zeitlichen Abläufe der präsentierten Ereignisse kennt man aus großen Mainstreamproduktionen, doch hier sind diese Täuschungsmanöver nie Selbstzweck, sie zielen in keinster Weise auf das unerwartet Spektakuläre. Das Misstrauen ist wohl auch in The Father ein zentraler Aspekt, aber: Ob da nun eine Armbanduhr gestohlen oder doch nur verlegt wurde, ob da nun ein Wandgemälde entsorgt wurde oder doch nie dagewesen war, all das ist letztendlich nicht von Belang, denn hinter diesen Verwirrspielchen, die der Film für sein Publikum bereithält, geht es um etwas ganz anderes, der Kern des Films liegt tiefer - ein Mann kämpft da mit aller Macht um das ihm Unantastbare: seine Würde.
Mit Anthony Hopkins hat Florian Zeller einen versierten Schauspieler in der Titelrolle, der diesen Film tragen und dieses Schicksal glaubwürdig machen kann. An seiner Seite spielt insbesondere Olivia Colman (The Crown) in der Rolle der Tochter wunderbar auf. Es sind die kleinen Gesten in dieser Vater-Tochter-Beziehung, die von dieser langjährigen und unbedingten Liebe erzählen. Das weiß Florian Zeller und auch sein Kameramann Ben Smithard. Sie sind ganz nah bei den Schauspieler/innen: The Father setzt besonders auf Großaufnahmen und auf die feine Mimik seines Schauspielensembles. Und wiederkehrend hält die statische Kamera diese Wohnung fest, so als ob sie den Figuren und auch seinem Publikum visuelle Anhaltspunkte geben möchte: immer wieder die Küche, der Wohnraum, das Schlafzimmer. Starke Schauspielleistungen und einen überschaubaren, begrenzten filmischen Raum, mehr braucht The Father nicht, um großes Kino zu sein.