David Mamets Meisterwerk Oleanna wurde zuletzt 2009 am Broadway unter der Regie von Doug Hughes gespielt, leider aber nur mittelmäßig gut empfangen. Zur Jahreswende war das gleichnamige Stück im Kasemattentheater in Bonnevoie zu begutachten. Inszeniert vom jungen Moritz Schönecker, der sich schon im vorigen Jahr mit seinem Woyzeck im gleichen Theaterhaus profilierte, könnte diese Produktion aktueller nicht sein für ein luxemburgisches Publikum, welches nach und nach seine kreativen Köpfe im Sicherheitswahn des gut bezahlten und komfortablen Luxemburger Lehrerdaseins verschwinden sieht.
John (Germain Wagner) ist Lehrer und steht kurz davor, sich in der Leiter des Schulsystems eine bessere Position zu verschaffen, die ihm erlauben wird, ein vertrautes Heim für die ungeliebte Frau und ihren gemeinsamen Sohn zu erwerben. Abgesehen von dieser materiellen Verbesserung ist die Promotion auch eine Bestätigung seines akademischen Könnens, deren Nützlichkeit er durch den Inhalt seiner Kurse doch immer wieder nichtig macht, indem er vor seiner Schülerin Carole (Lea Whitcher) abermals unterstreicht, dass die moderne Form vom universitären Schulwesen nichts anderes mehr ist als eine pure soziale Konvention. Diese durchläuft heute einjeder, um durch sein erworbenes Diplom eine besser bezahlte Arbeitsstelle zu erhalten. Die intellektuelle Freiheit, die John für jeden Schüler wünscht, steht bei dieser Konstellation nicht mehr als Hauptmenü auf der Speisekarte.
Die junge Schülerin Carole ist da anderer Meinung. Sie versteht rein gar nichts von Johns Konzepten und muss trotzdem seinen Kurs bestehen, um ihre schulische Karriere nicht vorzeitig beenden zu müssen. Lange hat sie gekämpft, um überhaupt höhere Bildung zu erlangen, und sie verabscheut geradezu Johns selbstsicheres Auftreten, welches ihm erlaubt, eine solche Arroganz gegenüber seiner Funktion an den Tag zu legen. Das von John kritisierte Schulsystem swill sie nicht hinterfragen. Vielmehr soll es ihr die Augen öffnen helfen, um aus der Kaverne Platons hervortreten zu können und eines Tages das natürliche Sonnenlicht und nicht mehr das artifizielle Schattenspiel betrachten zu können.
Es liegt beim Betrachter, ob er nun die private Unterhaltung zwischen Lehrer und Schülerin als sexistischen Übergriff oder zuvorkommende Hilfestellung des Ersteren gegenüber Letzterer verstehen will, wobei in dieser Inszenierung jeglicher Körperkontakt mit der jungen Frau weitgehend vermieden wird. Zumindest im entscheidenden ersten Akt. Das Stück ist aufgebaut wie ein rotierendes Spiegelbild, in dem die Machtpositionen beider Protagonisten allmählich getauscht werden. Denn die zweideutig interpretierbaren Sätze des Lehrers werden von der jungen Frau eiskalt ausgenutzt, um dem Lehrer wegen sexistischem Verhaltens Steine in den Weg zu legen. Sie werden ihm letztlich das in seinen Augen wohlverdiente neue Zuhause rauben und ihn den Posten als Lehrer kosten. Je mehr die beiden miteinander reden, desto weniger verstehen sie sich. Dies führt schlussendlich, durch die provokativen Missbrauchsbeschuldigungen der Schülerin, zu Gewalttaten des Lehrers. Somit lässt John sich aus Wut und Hilflosigkeit genau zu dem hinziehen, das er zuvor abgestritten hat. Das angeblich unschuldige Opfer wird zum Täter.
Die Unzulänglichkeit jeder verbalen und nonverbalen menschlichen Ausdrucksform bildet den zentralen Aspekt dieses schnell gesprochenen Stückes. Im Zeitalter unserer blitzschnellen und mediatisierten Kommunikationswelt trifft Oleanna den Zuschauer wie ein physischer Pfeil ins virtuelle Facebook-Herz. Darüber hinaus bleibt viel Raum für persönliche Interpretationen: Die Wahrhaftigkeit des Bühnengeschehens wird zur subjektiven Projektion eines jeden Zuschauers, der seine eigenen Vorurteile im maßgeschneiderten Koffer in die Vorstellung mitbringt.
Dass dieses Theaterstück schon von so manchen erfahrenen Regisseuren, wie Harold Pinter oder David Mamet selbst, inszeniert wurde, scheint dem jungen deutschen Theatermann Schönecker keine kalten Füße zu bereiten. Als Nachfolger von schauspielerischen Größen wie William H. Macy, Bill Pullman und Aaron Eckhart ist auch der kreative Theaterleiter des Hauses, Germain Wagner, ein herzhaft komisches luxemburgisches Exemplar in der Rolle des John. Die Subtilität der amerikanisch-schweizerischen Schauspielerin Lea Whitcher übertrifft bei weitem die platte Darstellung des blonden US-Girly Julia Stiles in ihrer Interpretation von Carole. Abgesehen von der zu präsenten und penetranten Musik ist diese Inszenierung ein voller Erfolg und eine zutreffende Programmauswahl für ein luxemburgisches Publikum, in der sich jeder Zuschauer fragt, was denn nun richtig oder falsch ist. Auf dem Nachhauseweg mit dem Partner oder der Partnerin sind unendliche Diskussionen vorprogrammiert, die zu weiteren Missverständnissen führen können, die, wer weiß, vielleicht in kreativem Mord und Totschlag auf der Seite 3 in der Zeitung enden werden.