„Genug! Mir reicht’s! Ich möchte kein Neger mehr sein.“ Mit diesen Worten löst Monsieur Y schlagartig den Spannungsbogen, bevor das Publikum emotional überfordert wird. Zugleich schleudert die zentrale Figur die Gäste in eine konfuse Realität zurück. Monsieur Y hat genug der Gewalt, genug der Rebellion, genug der Demonstration. Er hat am eigenen Leib verspürt, was es bedeutet, das Handbuch des strategischen Protests aus den Händen entgleiten zu lassen. Er sucht als Überlebender des Holocaust die ständige Rechtfertigung seiner Existenz, möchte als Salon-Rebell der bürgerlichen Mitte auf die Barrikaden steigen. Doch schlimmer noch ist die Normalität: „Und so wurde ich wieder wie jeder andere auch; noch so ein Betrüger, der Muscheln isst, während andere umgebracht werden. Hier ist etwas schrecklich Normales.“
Wer aus dem Bauchgefühl heraus protestieren möchte, um sich wieder selbst zu spüren, schlüpft in die Rolle des „schwulen Niggers“ in den USA der 60-er und sucht das Pathos im Märtyrertod. Oder er lebt zusammen mit einer selbstbewussten Gattin, so etwa Madame X, die seine Pläne der krankhaften Leidensgier durchkreuzt, indem sie die Farbigen Reckless und Creampuff ins gutbürgerliche Haus bestellt, um in einer abschreckenden Probe ansatzweise zu zeigen, was Gewalt und Gegengewalt wirklich bedeuten.
Frank Hoffmann spielt in seiner Regiearbeit, der europäischen Erstaufführung Die Demonstration des 2007 verstorbenen ungarischen Autors Georges Tabori, mit den Extremen des Theaters. Die Verwüstung des bürgerlichen Salons, in der die vormals symmetrisch platzierten Möbelstücke vom Tisch mit Teeset bis zur gigantischen Muschel zu Kleinholz gemacht werden, bildet nur den Anfang. Ob dieser Gewaltausbruch noch Kunst ist? Nun, er ist es ebenso wie die von Creampuff vollgepinkelte Teekanne, von der er behauptet, „dies könnte ein Meisterstück sein“. Es gibt Menschen, die vollgepinkelte Kannen als Kunst akzeptieren. Manche sehen im aggressiven Protest ein Lebenselixier.
Diese teilweise extremen Gewaltexzesse stehen in ihrer Zügellosigkeit im krassen Gegensatz zu stillen Momenten, da der Leidende Atem schöpft, die Dramaturgie innehält und der nächste Ausbruch nicht lange auf sich warten lässt. Die atemberaubende Dynamik kippt schlagartig in minutenlange und damit unerträgliche Stille um, in der nicht mehr geschrien, nicht mehr getreten wird, kein Blut zum Vorschein kommt. Allein das eigene Schnaufen bricht die Stille.
Es ist die atmosphärisch kompakte Dichte der Handlung und das intensive Spiel insbesondere des deutschen Schauspielers Martin Brambach, aber auch der Luxemburgerin Christiane Rausch, letztlich der Darsteller Sulaimons und Ojakes, es ist die expressive Einbindung von Tonspuren: Zahlreiche Elemente begleiten oder entführen Monsieur Y in ein Spiel, das in seiner Radikalität nicht mehr verdeutlichen kann, wo die Grenze zwischen Wirklichkeit und Rollenspiel verläuft. Wer ist der Sheriff, wer sind die Nigger?
Eine gute Stunde spielt Hoffmann mit dem Publikum, lässt es im Glauben, hier sei ein Spiel aus den Fugen geraten. Die nackte Gewalt und die sich hochschaukelnde Spannung lässt jeden Gedanken daran vermissen, dass hier geprobt wird, alles nur ein Fake ist. Der Verfremdungseffekt des Scherzes vor dem Hintergrund der Eskalation verpufft, verpufft gezielt. Die Regie schlittert präzise am platten Witz vorbei, lässt die Demonstration nie zur schwarzen Komödie verkommen. Taboris Humor ist eine „bitterernste Angelegenheit“ (Tabori).
In der Eingangsszene möchte Madame X wissen, ob das Blut an Reckless‘ Kopf echt sei. Er antwortet mit den Worten „Wollen Sie kosten?“. Im weiteren Verlauf erübrigen sich diese Fragen. Das Spielerische verliert sein Gesicht hinter dem realen Schmerz. Erst mit der völlig lapidaren Entscheidung des Monsieur Y – urplötzlich und verwirrend klar – es reiche ihm, das Rollenspiel sei vorbei, erkennt das Publikum, wie sehr dieses Spiel zwischen Dichtung und Wahrheit die Verwirrung bis dato optimiert hat. Dazu Madame X: „Das Gute ist, dass wir aufhören können, wenn wir wollen. Erinnert ihr euch ans Versteckspielen? Spinnweben unter der Treppe? Und etwas kam näher und näher? Die Dunkelheit war kurz vorm Explodieren – jede Sekunde jetzt! Es war wunderbar. Man wusste, jemand würde das Licht anknipsen, bevor es zu schlimm wurde, und in der Küche würde es Napfkuchen und Limonade geben.“
Die Demonstration ist nichts für jedermann. Die erstickende Wirkung des Humors auf der Bühne des ersuchten Leidens muss erst einmal verdaut werden. Und trotzdem ist es eine meisterliche Bühnenarbeit, die eine Frage aufwirft: Wenn so arg das Spiel ist, wie, ja wie mag sich dann das alltägliche Leid jener anfühlen, die nicht nur proben, sondern ähnlicher Willkür tatsächlich ausgesetzt sind?