Utøya, Oslo. 22. Juli 2011. In einem Zeltlager der sozialdemokratischen Jugend sind hunderte Jugendliche versammelt. Plötzlich Schüsse. Ein Mann in falscher Polizeiuniform, damals 32 Jahre alt, ist am späten Nachmittag in das Lager eingedrungen und hat angefangen, wild um sich zu schießen. Binnen 75 Minuten ermordet er 69 Menschen; 32 davon sind unter 18. Der norwegische Staatsbürger Anders Behring Breivik hatte den Massenmord geplant, hatte schon am frühen Nachmittag Bomben im Regierungsviertel in Oslo gezündet. Seine Attacke galt den Verteidigern des von ihm gehassten „Multikulturalismus“, dem „Kultur-marxismus“ und all denen, die den „Massenimport von Moslems“ in sein Land zu verantworten hätten. All das schrieb und sagte Anders Breivik zu seiner Verteidigung während seines Prozesses.
„Was ich dem Jugendparlament angetan habe, ist nur ein Vorgeschmack dessen, was der Multikulturalismus Europa antun wird“ verkündet der fanatische Rechtsextremist in Chris Thorpes Stück Möglicherweise gab es einen Zwischenfall, das Max Claessen im Kasemattentheater inszeniert. Natürlich seien die Leute, die er erschossen habe, außer sich vor Angst gewesen, und der Gedanke, dass die Mädchen, die er tötete, auch seine Töchter hätten sein können, habe ihm seine Mission nicht vereinfacht. Aber auch neun Monate nach der Tat sah Breivik sich als Krieger mit einer fast heiligen Mission, der „natürlich nichts“ bereue. Sein Hass auf alle Andersdenkenden und seine kaltblütige Beschreibung des Massakers machen diese Passagen des Stückes fast unerträglich. Sie sind der aufwühlende Überbau zu drei Heldenepen, die von den drei Schauspielern bruchstückartig erzählt werden.
Es sind gescheiterte, verhinderte und zufällige Helden, die Thorpe beschreibt. Menschen, die durch ein Zusammenspiel der Umstände irgendwie etwas getan oder verhindert haben, die Welt verändert haben – oder auch nicht. Da ist zum Beispiel der „tank man“ genannte unbekannte Chinese, der am 5. Juni 1989, am Tag nachdem die chinesische Armee auf dem Tien’anmen-Platz in Peking Hunderte, vielleicht sogar Tausende junger Demonstranten brutal umgebracht hatte, eine ganze Panzerkolonne minutenlang aufhielt – ganz alleine, unbewaffnet, in jeder Hand bloß eine Einkaufstüte. Fotos und Videos des Mannes gingen um die Welt und wurden zum Symbol friedlichen zivilen Ungehorsams. Nickel Bösenberg, hier mit Presseausweis am Hut und Fotokamera um den Hals als Journalist karikiert, erzählt die Szene, diesen Mann, seine Banalität und den Zufall, der ihn zum anonymen Helden machte.
Doch während er erzählt, wird er immer wieder unterbrochen. Von Musik, all diesen Friedensliedern unserer Jugend, von Imagine bis Sound of silence, während denen die Schauspieler gemeinsam und in Zeitlupe Volksaufstände und Demos mimen. Dann blendet der Autor wieder einen anderen Monologfetzen ein. Zum Beispiel Eli Johannesdottir, eine Art Eva Perón, die als Jugendliche an einer Revolution teilnimmt, nur um sich dann nach und nach in eine Tyrannin zu verwandeln, die auf Demonstranten schießen lässt. Vom „Noch waren die Parolen nicht geschrieben, die uns in die Zukunft bringen würden“ über „Was jetzt?“ bis zum „Ich mache hier nur meine Arbeit“ vergeht nur eine Stunde. Und doch ist ihre Geschichte die einer politischen Desillusion, des Scheiterns der Idee von Utopie, die universellste, jene, die auf Generationen politischer Revolutionen passt.
Dagegen ist Luc Schiltz’ Geschichte des gescheiterten Helden, jenes extrem rationalen Menschen, dessen „Anteilnahme stets interessiert“ doch „kalt“ ist, enttäuschend. Er erzählt wie er bei einem Flugzeugunglück die Lage so falsch einschätzte, dass er einem Jungen, dem er hätte das Leben retten können, nicht half – und ihn so sterben ließ.
Chris Thorpes Stück ist ein komplexer Text, in dem verschiedene Erzählebenen miteinander verwoben sind, in dem es Perspektiven- und Zeitwechsel gibt, der Zuschauer sich schon ein bisschen konzentrieren muss, um die Figuren den jeweiligen Erzählungen zuordnen zu können. Regisseur Max Claessen versucht, das Ganze mit einer Popästhetik der Siebziger in Bühne und Ausstattung zusammen zu halten: farbige Plastikblumen an den Wänden (Hair lässt grüßen), Kostüme in pastellfarbenen Synthetikstoffen, Slapstick-Momente während der Übergänge und ein tiefer Griff in die Mottenkiste der Flower-Power-Ohrwürmer. So versucht er, mit Humor die Tragik der Erzählungen zu brechen. Elisabet Johannesdottir überzeugt erneut durch ihre kraftvolle Bühnenpräsenz, so dass die beiden Schauspieler neben ihr erblassen (besonders Luc Schiltz ist seltsam unbeteiligt an seiner Geschichte). Und doch fehlt der Inszenierung etwas: eine politische Einschätzung des Scheiterns der gesellschaftlichen Ideale. „Was jetzt?“ bleibt die große, unbeantwortete Frage des Stückes.