2016 in Luxemburg: ein neoplatonischer Philosophielehrer und früherer Vorsitzender der nationalen Ethikkommission, einst politisch links, kann sich bei RTL Radio „ein bisschen mehr Frauchen Petry und ein bisschen weniger Laura Zuccoli“ wünschen. In Weiswampach brennt ein Container, in dem Flüchtlinge untergebracht werden sollten; er wurde zuvor mit einem schnellen „Arabich weg“ beschmiert. Das Wutbürgertum wünscht auf den Internetforen wahlweise Ausländern, Politikern oder Pelzträgern Pest und Cholera. Hitlers Mein Kampf wurde, in einer kritischen Fassung, neu aufgelegt, und in Europa, von Griechenland bis Dänemark, zuckt dem rechten Mob der rechte Arm; Faschismus ist wieder salonfähig. Quasi als Reaktion, als Lesart, kramt Pol Cruchten Thomas Bernhard hervor. Sein Stück Vor dem Ruhestand, das Claus Peymann 1979 in Stuttgart uraufführte, sagt alles was zu sagen ist über die Banalität des Nationalsozialismus.
„Dein Vater war schon ein Judenhasser, wie 98 Prozent unseres Volkes“, erklärt darin die treue Vera ihrer aufmüpfigen Schwester Clara. „So ist die deutsche Natur. Auch in Millionen Jahren werden in Deutschland Juden gehasst.“ Und, etwas später, zu ihrem Bruder Rudolf: „Du bist der echte Deutsche (...) Die Mehrheit denkt wie wir und darf es nur im Geheimen. Die sind doch alle Nationalsozialisten, das sieht man ihnen doch an!“
Die drei Geschwister Rudolf, Vera und Clara Höller leben in einem schmucken Vorstadthaus in einer deutschen Kleinstadt. Um den Mief und die Enge ihres Denkens zu versinnbildlichen, hat Anouk Schiltz eine riesige Kiste auf die Bühne des Théâtre national gebaut, schmal und hoch, ein richtiger Guckkasten, in dem die drei Figuren gefangen sind. Rudolf war während des Zweiten Weltkrieges stellvertretender Lagerkommandant eines Konzentrationslagers. Eines Tages erscheint Reichsführer SS Heinrich Himmler unerwartet dort, isst mit ihm zu Mittag und findet das Lager vorbildlich geführt. Als Anerkennung verhilft er Höller nach dem Krieg zu einem falschen Pass und so zu einem neuen Leben. Nach zehn Jahren, während deren er sich im Keller der Familie versteckte, um sich vergessen zu machen, ist „Gras darüber gewachsen“, und Höller kann ungestört und ohne Prozess Gerichtpräsident und Landtagsabgeordneter werden. Himmler bleibt er ewig zu Dank verpflichtet, weshalb die ganze Familie an jedem 7. Oktober dessen Geburtstag feiert, in SS-Uniform oder sogar in KZ-Kostüm, mit Fürst Metternich-Sekt, Devotionalien, Fotos aus den guten, alten Zeiten im Lager, ein bisschen Wagner, Beethovens Fünfter und dem ganzen Brimborium. Einmal noch wollen sie es im Stillen machen, unter sich – aber dann, nächstes Jahr, wenn Höller im Ruhestand ist, werden sie, das haben Vera und Rudolf sich geschworen, ihre Überzeugungen im Tageslicht feiern, „schließlich haben wir auch eine ganze Menge führender Politiker, die Nationalsozialisten sind, sogar der Bundespräsident!“ meint Rudolf.
So war das, mit den Nazis. Irgendwie kamen sie auf einmal wieder aus den Kellern, Deutschland meinte, ihr Wissen zu brauchen, und schon war wieder alles beim Alten. Ulrich Seidl, Österreicher wie Thomas Bernhard, hat in seinem neusten Dokumentarfilm Im Keller alle möglichen skurrilen wie perversen Hobbys seiner Mitbürger aufgespürt, darunter auch einige ungehemmte Nazis.
Pol Cruchten, dessen beachtenswerter Film La supplication – Voices from Chernobyl demnächst in die Kinos kommt, interessiert sich immer für große Literatur über den Zerstörungsdrang des Menschen. Thomas Bernards bitterböse Gesellschaftskomödie ist da in ihrer ganzen Grausamkeit natürlich ein Glücksgriff. Die „Rücksichtslosigkeit, Heuchelei, Gemeinheit“ ihrer Geschwister, die Clara dermaßen verabscheut, doch denen sie, querschnittgelähmt nach einem amerikanischen Bombenangriff, nicht entkommt, sind die der ganzen Gesellschaft in der sie leben. Eine Gesellschaft, die Reinheit predigt und Inzest duldet. Leider nur sind die Schauspieler, ein homogenes und durchaus überzeugendes Ensemble, etwas zu sehr eingeengt in ihrer Kiste, was ihnen kaum Spielmöglichkeiten lässt.