Selten, zu selten überzeugt das Regietheater. Zu oft wird dieses dramaturgische Grundprinzip als Deckmantel für eine überzogene Egozentrik des Regisseurs herangezogen. Dass breite Teile des Publikums – gerade auch der junge – ihre erste Inszenierung eines Dramas sehen und zumeist nicht nach frischem Wind rufen, dass ein möglicherweise junges Publikum anlässlich des ersten Theaterbesuchs schlichtweg abgeschreckt wird, spricht eher gegen überzogene Lesarten.
Mit Bastian Krafts Inszenierung von Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame, einer Produktion des Deutschen Theater Berlin aus dem Jahre 2014, beweist der Regisseur in Zusammenarbeit mit seinem Bühnenbildner Simeon Meier, Kostümdesignerin Dagmar Bald und Regie-Assistent Ulrich Beck hingegen, dass solches Regietheater einer Inszenierung auch dienlich sein kann.
„Wir sind Claire Zachanassian.“ – So etwa könnte der abgelutschte, aber triftige Grundton dieser Inszenierung mit Star-Schauspieler Ullrich Matthes als Alfred Ill im Bild-Trash-Zeitalter lauten. Claire ist überall, in allen Dingen: Sie beginnt als Albtraum im videoprojizierten Kopf Alfred Ills. Sie steckt in jedem Hirn, und selbst der Schlaf bietet keine Rückzugsmöglichkeit vor jenem fauligen, doch stets latenten Rausch nach Materialismus, nach dem zum Salongeschwafel verkommenden Humanismus, der nur so lange unmissverständlich herrscht, bis die Parze Kläri Zachanassian daherkommt und Konjunktur für eine Leiche bietet, für den Wohlstand des heruntergekommenen Güllens Gerechtigkeit fordert, ihre Jugendliebe Ill ans Messer liefert. Die totalitäre Vergöttlichung ihrer Figur erlaubt es ihr, jeden Gegendruck des Humanismus abzuwinken: „Ich warte.“ Man wird Alfred Ill töten. Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral; auf Pump verfällt ein Kollektiv dem Materialismus, auf Pump verliert ein Dorf jede ethische Grundlage.
Dieses Virus der Amoral ist überall, und dies weiß das Ensemble konzeptuell und originell zu verwirklichen. Zum einen gibt es fünf verschiedene Zachanassians, in unterschiedlichen Altersstufen, unterschiedlicher Haltung. Alfred Ill wird von ihnen in Rückblenden, kommentierend oder im handelnden Jetzt umworben, gepeinigt, be- und verurteilt. So liefern uns diese Darstellerinnen, allesamt in Schwarz-Weiß gekleidet, insbesondere jedoch mit einer grellroten Perücke ausgestattet, die Rachegöttin in allen Zeitschichten: im Damals, im Nun und in der Zukunft, die Ill verwehrt bleiben wird.
Doch auch gesellschaftlich ist Zachanassian im gesamten Dorf, in jedem Bürger, in uns. Zu Beginn beschränkt sich das grelle Rot lediglich auf die Haartracht der Kläri-Darstellerinnen. Der Rest des bestechenden Bühnenbilds bewegt sich in kaltem, expressionistischem Schwarz-Weiß eines Scherenschnittmusters durch die Kulissenchronologie. Die Farblosigkeit der bitteren Armut wird vervollständigt mit Schrifteinblendung und Lichtspielen, dazu das begleitende Klavierspiel von Thies Mynther. Man wähnt sich im Stummfilm der Dreißigerjahre. Schrittweise verleiht Zachanassian den Bürgern eine Stimme, wenngleich mit gespaltener Zunge: Das schrille Pop-Rot der Perücke frisst sich zusehends durch die Requisite. Die Kunden von Ill leisten sich Luxusgüter im Hinblick auf die bevorstehende Milliarde, in schwelender Hoffnung darauf, dass jemand den Mord begehen wird. Rot wird die Cognacflasche, rot der Tennisschläger, rot die Luxuskarosse.
Um darzustellen, wie sehr diese Verführbarkeit von Anfang an in den Bürgern lauert, werden Pfarrer, Lehrer und Bürgermeister nicht etwa von weiteren Schauspielern gemimt. Auch hier verhelfen sich die Zachanassian-Darstellerinnen (darunter Helmut Mooshammer als Mann für Claires männliche Seite) mit einigen Requisiten in Schwarz und Weiß (einem Kreuz, einem Hut, einem Papphaarteil), um gemeinsam mit der bereits getragenen roten Perücke daran zu erinnern, dass Kläri in uns allen wohnt und aufwacht, wenn Mammon lockt.
Es mag verwundern, dass dieser Beitrag die Leistungen des Darsteller-Ensembles angesichts dieser Schauspielprominenz nur am Rande würdigt: Unter anderem bieten Ulrich Matthes, Margit Bendokat und Helmut Mooshammer eine überragende Vorstellung. Darin liegt aber zugleich die Besonderheit der Produktion: Bastian Kraft gestaltet eine schrille, groteske, expressionistische Pop-Art-Ausgabe des Besuch der alten Dame, die vom Bühnenbild, vom Gesamtkonzept lebt. In dieses Konzept fügen sich die Darsteller als einzelnes Element ein, ohne im Zentrum zu stehen. Hauptfigur ist bei Kraft nicht Ill, nicht Claire. Wenn überhaupt von einer Hauptrolle die Rede sein kann, dann spielt das Bühnenbild sie. Bis auf das streckenweise zu hohe Tempo der Vorstellung passt das Gefüge. Dieses Gastspiel im Grand Théâtre entpuppt sich als Regietheater, wie es sein sollte: Krafts Lesart ist kein Egotrip eines Regisseurs, sondern ein bereichernder Beitrag zum Rezeptionsspektrum dieser Tragikomödie.