Die Regierung will die Landesplanung reformieren. Die CSV verspricht ihre Mitarbeit, ließ die Koalition vor einer Woche aber erst einmal auflaufen. Interview mit Ex-Landesplanungsminister Michel Wolter

„Schaut doch ins IVL!“

d'Lëtzebuerger Land du 27.03.2015

In einer Mammutsitzung debattierte die Abgeordnetenkammer am Donnerstag vergangener Woche sechseinhalb Stunden lang über die Landesplanung. Nachdem die Regierung Ende November die vier umstrittenen Plans sectoriels zurückgezogen und bekanntgegeben hatte, die Landesplanung insgesamt noch bis Ende dieses Jahres neu ausrichten zu wollen, sollte die Debatte einen politischen Konsens über das „Wie“ liefern.

d’Land: Herr Wolter, bei der Landesplanungsdebatte diskutierte die CSV ausgesprochen konstruktiv mit, stimmte am Ende aber gegen den Entschließungsantrag der drei Mehrheitsfraktionen. Wäre etwas anderes von der größten Oppositionsfraktion zu viel verlangt gewesen?

Michel Wolter: Nein. Landesplanung eignet sich schlecht für Parteipolitik. Landesplanung ist etwas, woran man glaubt – oder nicht. Wir trugen den Antrag der Koalition nicht mit, weil er schlecht redigiert und vor allem nicht präzis genug war. Wenn man zum Beispiel will, dass die Regierung einen Weg findet, um die Gemeinden in die Landesplanung einzubinden, dann reicht es nicht zu sagen: Findet einen Weg! Man muss auch sagen, wie er aussehen soll.

Aber das ist ein Detail. Jetzt politisieren Sie doch.

Das ist keineswegs nur ein Detail. Die Gemeinden einzubinden ist wichtig und überhaupt nicht einfach. Zweck einer Konsultationsdebatte, wie sie vergangene Woche stattfand, ist ja, dass die Regierung sich vom Parlament sagen lässt, wo es langgehen soll. Dazu braucht das Parlament von der Regierung Input. Die Regierung aber hat es noch nicht einmal fertiggebracht, eine Analyse der Stellungnahmen zu liefern, die sie von den Gemeinden zu den Plans sectoriels erhalten hat. Da wird die ganze Debatte von vornherein unpräzise. Die Beiträge der CSV hatten, wie ich fand, am meisten Substanz. Déi Gréng stehen der Landesplanung ebenfalls nahe, aber weder von der DP noch von der LSAP war viel zu vernehmen.

Bemerkenswerterweise geht die Regierung mit der CSV ziemlich zurückhaltend um. Dabei könnte sie die Probleme in der Landesplanung ihr anlasten, weil die CSV seit 1999 den zuständigen Minister stellte. Aber das tut sie nicht.

Weil Landesplanung etwas sehr Komplexes ist und viele verschiedene Interessen auf sie einwirken. Weder gibt es „den Staat“, sondern stattdessen viele Ministerien und Verwaltungen mit jeweils eigener Sicht, noch gibt es „die Gemeinden“, sondern 106 verschiedene und unter ihnen mindestens fünf Gemeindetypen. „Den Privatinteressent“ gibt es ebenfalls nicht, sondern mal ein Unternehmen, mal einen Grundstücksbesitzer, mal einen Bürger, der eine Wohnung sucht. Aber ganz Recht gebe ich Ihnen mit Ihrer Einschätzung nicht: Als die Regierung die Plans sectoriels im Juni 2014 in die Prozedur gab, sagte sie nicht klar, dass man sich in der Kontinuität befände, weil an den Plänen mehr als zehn Jahre lang gearbeitet worden war. Sie sagte, wir packen es an, wir tun jetzt, wozu die CSV all die Jahre nicht imstande war.

Davon war bei der Präsentation der Entwürfe nichts zu hören.

Ich habe das anders in Erinnerung. Es hat ja nicht nur François Bausch kommuniziert. Maggy Nagel machte unsere Projets d’envergure zum Wohnungsbau zur Speerspitze ihrer Politik. In Interviews sagte sie, damit beheben wir, was die CSV uns hinterlassen hat.

Ein bisschen Politisieren muss offenbar doch sein.

Man muss aber aufpassen, dass man glaubwürdig bleibt. Erst deklariert die Wohnungsbauministerin die Großprojekte zur Lösung des Wohnungsproblems, und dann kommt der Landesplanungsminister und erklärt gegenüber Ihrer Zeitung vor vier Wochen: „Die meisten davon werden wir fallenlassen.“

Die Regierung steht unter Zeitdruck und scheint dabei ziemlich ratlos zu sein. Wahrscheinlich beruft sie sich deshalb auf das nun zwölf Jahre alte IVL, das Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept.

Was nicht falsch ist! Das IVL war der Startschuss für die Landesplanung. Die ist noch sehr jung. Ein erstes Landesplanungsgesetz, das diesen Namen verdiente, wurde kurz vor den Wahlen 1999 verabschiedet. 1999 wurde auch der Entwurf eines Programme directeur mit Leitlinien für die territoriale Entwicklung geschrieben. Aber erst das IVL, das ich als Minister 2002 in Auftrag gegeben hatte, dachte den Verkehr mit Wohnungsbau, Arbeitsplatzansiedlung und Landschaftsschutz ganz konkret zusammen und gab Handlungsempfehlungen entlang der Zeitschiene.

Aber wurde es ernst genommen? An der Basis enthielt das IVL ein „Einwohnerszenario“ und ein „Pendlerszenario“. In Ersterem hätte man sich darauf konzentriert, Wirtschafts- und Arbeitsplatzzuwachs so zu lenken, dass die meisten neuen Arbeitskräfte in Luxemburg ansässig würden. In Letzterem hätte man entschieden, vor allem auf Grenzpendler zu setzen. Das Expertengremium zum IVL empfahl damals das Einwohnerszenario. Aber hätte das nicht bedeutet, eine politische Entscheidung nicht nur über Verkehrswege oder Wohnungsbau zu treffen, sondern beispielsweise auch eine, wie das Schulsystem funktionieren müsste, um noch mehr Einwandererkinder gut zu unterrichten?

Natürlich. Aber zu solchen Entscheidungen ist die Luxemburger Politik gar nicht imstande. Die Zusammenhänge sind komplex und wirken langfristig. Doch sich auf eine Langfristdebatte einzulassen, ist die Politik nicht fähig, weil sie getrieben ist vom Verlangen nach kurzfristigen Resultaten. Ich habe am eigenen Leib erlebt, wie man bekämpft wird, wenn man den längerfristigen Blick vertritt. Die territoriale Reorganisation, über die ich ab 2005 in einem parlamentarischen Sonderausschuss einen Konsens zu finden versuchte, war kein Selbstzweck. Es ging darum, mit unserer Gemeindestruktur im 21. Jahrhundert anzukommen, damit man mit möglichst wenig Aufwand zum Ziel gelangt – nicht zuletzt in der Raumplanung, an der die Gemeinden mitarbeiten sollen. Mit Einheiten von 1 500 Einwohnern im ländlichen Raum und 3 000 im städtischen Raum kommen wir nicht voran.

Einen gewissen Konsens über die Territorialreform gab es 2007. Es hieß, auf Fusionen werde hingearbeitet, aber ohne Zwang, und 2017 werde ein Referendum über eine neue Gemeindelandschaft abgehalten. Interessanterweise spricht heute niemand mehr davon.

Die Regierung lehnt es ab, über die territoriale Reorganisation zu reden. Im Wahlprogramm der CSV 2013 stand sie noch, das Referendum auch.

Vermutlich fürchten die anderen Parteien, vor allem die auf kommunaler Ebene starke LSAP, mit mehr Proporzgemeinden wüchse der Einfluss der CSV.

In meinen Augen durchdenken diese Leute die Probleme der Landesplanung nicht bis zum Schluss und die Landesplanung hat keine Priorität für sie. Deshalb interessiert mich so stark, wie die Regierung es schaffen will, die Gemeinden in die Raumplanung einzubinden. Jetzt wird die „regionale Zusammenarbeit“ wieder zum Thema. François Bausch möchte sie vorantreiben. Ich wünsche ihm wirklich, dass er das schafft. Aber wenn er sagt, es reiche, Gemeinden in einer Region „interessante Projekte“ anzubieten, von denen alle profitieren, wie etwa von einem regionalen Gewerbegebiet im Alzettetal, dann habe ich meine Zweifel. Ich finde, es reicht auch nicht, Geld in die Regionen zu geben. Mit Projekten und Geld löst man keine Konflikte unter den Gemeinden. Der Konfliktprävention wäre mehr gedient, wenn man die Gemeindelandschaft umstrukturiert.

Und wie?

Wir sagen: Es sollte höchstens 60 Gemeinden geben, so viele, wie die Abgeordnetenkammer Sitze hat. Dann könnte das Bürgermeistermandat vom Abgeordnetenmandat getrennt und eine Chambre des élus locaux geschaffen werden. Die würde sich mit regionalpolitischen Fragen befassen, während die Abgeordnetenkammer sich auf die nationale und die Europapolitik konzentriert. Aber das ist derzeit nicht konsensfähig.

Raumplanung, wie sie im IVL beschrieben wird und schon seit 1999 beabsichtigt ist, hieße auch, bestimmte zentrale Gemeinden in ihrem Wachstum zu fördern, andere dagegen zu bremsen. Wie kann das gehen?

Nur, indem man die Gemeindefinanzierung entsprechend ausrichtet. Das ist jetzt beabsichtigt. Ich fürchte nur, dass es am Widerstand der kleinen Gemeinden und ihrer Bürgermeister scheitert und die Politik am Ende nicht den Mut hat, etwas zu entscheiden. Womit wir wieder beim Punkt Territorialreform wären. Zweitens müsste man festlegen, welche zusätzlichen Missionen die Gemeinden, die stärker werden sollen, zu übernehmen hätten, damit höhere Zuwendungen an sie gerechtfertigt wären. Das ist sehr schwierig. Und es gibt noch ein Problem: Konzentriert man das Wachstum auf bestimmte Orte, dann konzentriert man dort auch die Nachfrage nach Wohnraum. Daraufhin werden dort die Preise steigen und die Baupromotoren werden versuchen, doch in die kleinen Gemeinden zu gehen, weil da die Grundstücke billiger sind. Was wiederum den kleinen Gemeinden gefallen wird, die trotz Beschränkungen wachsen möchten. Der Bürgermeister einer Gemeinde von 1 500 Einwohnern wird es vorziehen, durch Eigenentwicklung auf 3 000 zu kommen statt mit der Nachbargemeinde zu fusionieren.

Dann wäre das Ganze von vornherein eine verlorene Sache?

Es ist auf jeden Fall nicht trivial. Man könnte über ein System voluntaristischer Unterstützung der größeren Gemeinden dorthin kommen. Kriterium dafür müsste der öffentliche Transport sein, indem man sagt: Zusätzliche Einwohner nur dort, wo es eine gute Anbindung gibt. Das könnte ein Ansatz sein. Er dürfte aber auf den Widerstand aller möglichen Lobbys stoßen wie in den letzten 15 Jahren, da mache ich mir gar nichts vor.

Im April 2004, als Sie noch Minister waren, sagten Sie gegenüber dem Land (29.04.2004), Sie hätten ein Konzept, die Hierarchisierung der Gemeinden finanzpolitisch zu begleiten. Würde es sich heute noch eignen?

Ich ging von den CDA aus, den neben der Hauptstadt und Esch/Alzette „zentralen Orten“, die schon 1999 das Programme directeur zur Landesplanung beschrieben hat. Das IVL entwickelte den Ansatz weiter. Die Frage sollte sein: Welche Missionen hat ein CDA? Nach diesen Prinzipien hätte man die Gemeindefinanzen reformiert. Das war auch eine Grundausrichtung im IVL. Aber: Es hätte ebenfalls bedingt, ernsthaft über die „Dekonzentration“ zu sprechen und dass man davon abgekommen wäre, vor allem Luxemburg-Stadt zu entwickeln. Es hängt alles miteinander zusammen, und wenn man in zwei, drei Bereichen aus politischen Erwägungen lieber nichts tut, kann man nicht erwarten, dass sich in anderer Hinsicht etwas bewegt.

Fehlte es ab 2004 an einem durchsetzungsfähigen Landesplanungsminister?

Das weiß ich nicht.

Ich hatte auch nicht wirklich erwartet, dass Sie Ihre CSV-Kollegen kritisieren.

Ich weiß es wirklich nicht. Es kommt nicht nur auf den Landesplanungsminister an. Wichtig ist auch, ob die anderen Regierungsmitglieder am selben Strang ziehen, und ob die Beamten, die politische Beschlüsse umsetzen sollen, das auch tun. Eine weitere Frage ist, welche Zuständigkeiten die Gesetze dem Landesplanungsminister verleihen. Erst die Reform des Landesplanungsgesetzes vom 9. Juli 2013 verlieh dem Minister gewisse transversale Kompetenzen gegenüber den anderen Ressorts. Praktisch auswirken kann sich das erst unter der derzeitigen Regierung.

2006 und 2007 lieferten sich der damalige Hauptstadtbürgermeister Paul Helminger und die damalige Escher Bürgermeisterin Lydia Mutsch öffentliche Auseinandersetzungen über eine Verlagerung von Finanz- und Dienstleistungsaktivitäten aus der Hauptstadt in den Süden. Helminger sagte: Lasst die Finger von unserem gewachsenen Kompetenz-Cluster, und auch sein damaliger Erster Schöffe François Bausch ärgerte sich, wenn man die Hauptstadt „bremsen“ wollte. Wäre das eine Dekonzentration gewesen, wie Sie sie meinen?

Ja, man hätte die Logik durchbrechen müssen, dass es im Süden nur Industriegebiete geben soll und nur in der Hauptstadt und ihrem Umland Finanzen und um sie gelagerte Dienstleistungen. Dafür findet man aber keine Mehrheiten, dazu ist das politische Gewicht von Luxemburg-Stadt, auch in der Abgeordnetenkammer, einfach zu groß. Es ist beinah unmöglich, etwas gegen die Hauptstadt zu machen, und es ist umso schwerer, wenn die anderen Gemeinden schwach und uneins sind und jede nur nach sich schaut. Ich sehe das in Prosud, dem einzigen Planungssyndikat. Am Anfang saßen dort die Bürgermeister der elf Mitgliedsgemeinden. Heute sind es nur noch sechs Bürgermeister. Nichts gegen Schöffen im Syndikatsvorstand, aber wenn es um strategische Fragen geht, müssen Bürgermeister sie besprechen. Aber offenbar ist Regionalplanung im Süden nicht wichtig: François Bausch und Camille Gira hatten Prosud besucht, um über die Plans sectoriels zu disktutieren. Zwei Regierungsmitglieder nahmen sich Zeit von halb acht bis halb elf Uhr abends. Aus fünf der elf Prosud-Gemeinden aber war kein Vertreter anwesend, und es waren nicht die unwichtigsten Gemeinden, die fehlten!

Wir hatten den Wohnungsbau schon angeschnitten. Weshalb sollte man im großen Stil auf der grünen Wiese bauen, wie es offenbar vom Wohnungsbau- und vom Landesplanungsminister der CSV in der vorigen Regierung in 25 Projets d’envergure auf insgesamt 500 Hektar gewollt war?

Wenn es innerhalb der kommunalen Bauperimeter nicht genug Flächen gibt, kann man das tun. Zumal der Bedarf an Wohnungen in Luxemburg wegen des Bevölkerungszuwachses enorm ist.

Nun sagt die Regierung, ein so hoher Landverbrauch müsse nicht sein, weil innerhalb der Perimeter 2 700 Hektar mobilisierbar seien, 700 Hektar sogar kurzfristig.

Wenn das stimmt, wäre das gut, aber ich möchte erst mal sehen, wo die 700 Hektar sind, wem sie gehören und ob sie tatsächlich schnell bebaut werden könnten. Auf die Idee hätte die vorige Regierung schließlich auch kommen können.

Ob man lieber Innenräume verdichtet oder auf der grünen Wiese baut, war aber schon immer umstritten. In einer großen Wohnungsbaudedatte 2001 im Parlament war der damalige wohnungsbaupolitische Sprecher der LSAP, Mars Di Bartolomeo, für den Bau auf der grünen Wiese, Alex Bodry, bis 1999 Landesplanungsminister, war dagegen. Étienne Schneider zog 2013 in den Wahlkampf unter anderem mit dem Slogan: Macht den Perimeter auf! CSV-Wohnungsbauminister Fernand Boden fand 2006 während der Diskussionen um den Pacte logement, die grüne Wiese komme höchstens „à terme“ in Frage, wenn man die Innenräume verdichtet hat.

Nur im Innenraum bauen zu wollen, wird jämmerlich scheitern. François Bausch hat angekündigt, auch Bauland im Perimeter könne enteignet werden. Nicht nur die CSV hat vergangene Woche erklärt, das komme nicht in Frage, sondern DP und LSAP auch. Also, was will die Regierung? Meiner Meinung nach muss es ein Zusammenspiel der Optionen geben. Großflächig neu ausweisen sollte man Flächen, die gut an den öffentlichen Transport angebunden sind. Was übrigens auch das IVL empfohlen hatte.

Peter Feist
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