Aids

Zeitbombe

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2001

Als Robert Hemmer, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten am hauptstädtischen Centre hospitalier und Präsident des Comité de surveillance du SIDA, zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember 2000 seine alljährliche Ansprache hielt, rückte er das Aids-Problem im globalen Maßstab in den Mittelpunkt. Ende 2000 waren laut Weltgesundheitsorganisation mehr als 36 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert oder an Aids erkrankt, weitere 22 Millionen sind an der Krankheit verstorben, seit im Juni 1981 die ersten Fälle registriert wurden. 5,3 Millionen HIV-Neuinfektionen hat es allein im vergangenen Jahr gegeben; vor allem in Afrika südlich der Sahara, wo in einem Land wie Botswana mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung infiziert und dadurch die durchschnittliche Lebenserwartung von einst 60 auf heute 40 Jahre gesunken ist.

 

Verglichen mit diesen erschreckenden Zahlen nimmt sich die HIV-Statistik Luxemburgs noch immer beruhigend aus - wie die der anderen reichen Länder. Aber dennoch wurde hier, wie im Rest der Welt, das Aids-Problem im vergangenen Jahr größer. 44 HIV-Neuinfektionen wurden in Luxemburg gezählt; 1999 waren es nur 29 gewesen. Einen derartigen Zuwachs um ein Drittel hat es noch nie gegeben, abgesehen von den Anfangsjahren der HIV-Diagnosen, als 1984 zwei Fälle gezählt wurden und im Jahr danach 23. Von 1994 bis 1999 schien die Bilanz sich auf einem Niveau zwischen 26 und 30 Neuinfizierten pro Jahr eingependelt zu haben, und durch die Verfügbarkeit neuer Medikamente, die den HI-Virus zwar nicht beseitigen, seine Ausbreitung aber bremsen können, sank die Zahl der an Aids Erkrankten kontinuierlich von 20 im Jahre 1993 auf fünf 1999. Um im vergangenen Jahr wieder auf zehn zu wachsen.

 

Ursachen dafür sind schwierig zu benennen. Eine Aids-Sozialforschung gibt es nicht, ohnehin ist die Zahl der Betroffenen zu klein, um statistisch brauchbare Schlüsse zu ziehen: ein Anstieg um ein Drittel ist weniger aussagekräftig, wenn er von 29 auf 44 erfolgt als von 29 000 auf 44 000.

 

"Wir sind natürlich keine Insel", sagt Robert Hemmer. "Wenn das Aids-Problem sich weltweit verschärft, ist es nicht unlogisch, wenn sich das auch auf Luxemburg auswirkt." Migrationsbewegungen tragen ebenfalls ihren Teil dazu bei; unter den im letzten Jahr gezählten Neuinfizierten waren mehrere Einwanderer und Flüchtlinge, manche unter ihnen seien bereits HIV-positiv gewesen, bevor sie nach Luxemburg kamen.

 

Vor allem jedoch sieht Robert Hemmer in der Bevölkerung die Sensibilität, für sich selbst Vorsorge zu tragen, seit Jahren auf dem Rückzug: "Berichte über neue Therapien werden zu oft so verstanden, als sei Aids heilbar. Das stimmt aber nach wie vor nicht." Mit Prävention und Beratung befasste Organisationen und Dienste sehen das ebenso. "Sex ohne Gummi wird immer laxer gehandhabt", meint der Psychologe und Leiter der Aids-Berodung der Croix-Rouge, Henri Goedertz: "Man verhandelt einen Augenblick lang mit sich selbst und ist dann bereit, das Risiko doch einzugehen." Marceline Goergen hat diese Haltung im Praxistest ermittelt. Sie sei, berichtet die resolute Leiterin der Onofhängeg Aidshëllef, eines Abends durch die Hauptstadt gezogen und habe Männer nach ihrer Einstellung zu One night stands befragt. "Das war erschreckend. Fast alle wollen sowas nur ohne Kondom." Vor diesem Hintergrund wird es verständlicher, dass in der HIV-Statistik des vergangenen Jahres die Zahl der Neuinfektionen unter Heterosexuellen stärker gewachsen ist als unter homosexuellen Männern, und dass auch immer mehr Frauen angesteckt werden.

 

Wenn verstärkte Sensibilisierung und Aufklärung Not tun, stellt sich jedoch die Frage, wen man damit erreicht und wer dabei eventuell außen vor bleibt. Dass auch unter Jugendlichen ein wachsendes Desinteresse der Aids-Aufklärung gegenüber zu verzeichnen sei, wird im Jahresbericht 2000 des Comité de surveillance du SIDA notiert, andererseits schätzt Henri Goedertz von der Aidsberodung aus seiner Erfahrung von Auftritten in den Lyzeen das Interesse der Schülerinnen und Schüler als hoch ein, den Stand ihrer Vorkenntnisse ebenfalls. "Fragt sich natürlich, wie sie in der Praxis dann damit umgehen." Auf großes Interesse stoße der im vergangenen Jahr eingeführte Roundabout Aids, ein interaktives Spiel um Liebe, Partnerschaft und Sexualität, bei dem an verschiedenen Ständen über Drogenkonsum, über die verschiedenen Verhütungsmittel und über ein "Leben mit HIV" informiert wird. Außerdem werden in Rollenspielen Situationen wie "Das erste Mal" oder "Schwul sein" nachgestellt, und mit Hilfe einer Art "Glücksrad", dessen Zeiger anstelle auf zu gewinnenden Geldbeträgen auf zu erklärenden Begriffen aus dem Gefühls- und Intimleben stehen bleibt, werden die abstrakten Begriffe in der Gruppe diskutiert. Eine weitere Besonderheit des Roundabout besteht darin, dass damit eine Sensibilisierung "Peer to peer" erreicht wird: Freiwillige unter den Schülerinnen und Schülern werden im Kurzlehrgang zu Roundabout-Leitern ausgebildet. Anscheinend ein bereicherndes Konzept. Denn, so Henri Goedertz: "Im normalen Unterricht, der ja Themen wie die biologische Fortpflanzung, Partnerschaft und Familie, Liebe und Sex in verschiedene Fächer integriert hat, hängt es noch immer stark von der Lehrperson ab, wie sie diese Themen angeht."

 

Offenbar besteht in den Schulen ein weiterer Reformbedarf in den Lehrplänen. Vor zwei Jahren wurde die Sexualerziehung im technischen Sekundaruntrricht überarbeitet. Eine Zusammenarbeit mit dem Aids-Komitee gibt es allerdings nicht, Robert Hemmer bekommt "überhaupt nicht mit, was das Unterrichtsministerium wegen des anhaltenden HIV-Risikos unternimmt. Der Roundabout wurde bezeichnenderweise nicht hier zu Lande erdacht, sondern in Deutschland, und die im Mai 1999 von Unterrichts- und Gesundheitsministerium unter über 7 000 Schülerinnen und Schülern der Klassen 7 bis 12 gemeinsam durchgeführte aufwändige Umfrage zum Health behaviour among school-aged children, die unter anderem wichtige Aufschlüsse über Einstellungen zu Partnerwahl, Sex und Verhütung ermitteln soll, ist nach Auskunft des Gesundheitsministeriums noch immer nicht ausgewertet.

 

Wenn die Sensibilisierung unter "normalen" Jugendlichen schon Probleme bereitet, dann ist die unter gesellschaftlich marginalisierten noch komplizierter. Tom Schlechter, Psychologe und Verantwortlicher der nahe dem Bahnhof stationierten Anlaufstelle für Drogenabhängige "Abrigado", kommen Aufklärungs- und Präventionsversuche unter Drogenkonsumenten oftmals vergeblich vor: Eines der Probleme bestehe im sehr häufigen Gruppenkonsum von Heroin: "Man spritzt sich das zu dritt oder zu viert und macht sich dabei nach eigenen Angaben keine Gedanken darum, ob man eine unbenutzte Spritze verwendet oder nicht." Darüberhinaus ist der Spritzentausch bei "Abrigado" rückläufig, was Tom Schlechter unter anderem damit erklärt, dass eine gleich bleibende Angst vor polizeilicher Verfolgung die Heroinkonsumenten davon abhält. "Daran wird auch das neue Drogengesetz nichts ändern. Es legalisiert ja nur die Spritzenausgabe, der Konsum selbst bleibt weiterhin verboten."

 

Was auch ein Grund dafür sein dürfte, dass Tom Schlechter wie andere in der Hilfe für Drogenabhängige tätige Stellen einen wachsenden Konsum kunterbunter Rauschmittel-Cocktails feststellen. "Wer nur Heroin nimmt", sagt Tom Schlechter, "ist ziemlich klar bei Verstand und kann auch an Aids-Vorsorge denken. Aber da die Qualität des Heroins immer schlechter wird und genügend viele Pillen auf ärztliches Rezept verschrieben werden, nehmen immer mehr Leute ein ganzes Sammelsurium ein. Dann ist an Vorsorge nicht mehr zu denken." Die Informationen zum Thema Aids und HIV würden von den bei "Abrigado" Anklopfenden "wahrscheinlich weitgehend ignoriert. Sie haben", meint Tom Schlechter, "ihre eigene Logik innerhalb der Szene, um damit umzugehen."

 

Der steigende Konsum verschiedener Rauschmittel auf einmal wird auch vom Aids-Komitee als große Gefahr betrachtet. "Die neuen HIV-Medikamente", sagt Robert Hemmer, "können zwar, wenn alles klappt, die Ausbreitung des Virus bremsen. Manchmal aber wird er resistent gegenüber einem dieser Medikamente, manchmal gegenüber mehreren. Das geschieht umso häufiger, je unregelmäßiger die Medikamente eingenommen werden." Die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, liegt bei wahllos Pillen Konsumierenden besonders hoch.

 

Für Robert Hemmer ist die Aids-Prävention in den Strafanstalten von Schrassig und Givenich ein weiteres chronisches Problem. Spritzenautomaten, wie das Aids-Komitee sie seit Jahren fordert, gibt es dort bis heute nicht. "Stattdessen", sagt Marceline Goergen von der Onofhängeg Aids Hëllef, die sich insbesondere um HIV im Gefängnis kümmert und aus der Haft entlassene HIV-Infizierte betreut, "erfolgt dort die Spritzenausgabe vom Gefängnisarzt. Gelegentlich, und à la tête du client." Da im Gefängnis viele Drogen im Umlauf sind und die Nachfrage nach Spritzen groß ist, werde damit ein schwunghafter Handel getrieben. Eine neue Spritze sei für 1 000 Franken zu haben, allerdings würden auch gebrauchte zum halben Preis verkauft. Das Gefängnis sei eine "HIV-Zeitbombe", meint Marceline Goergen, und dass im vergangenen Jahr sämtliche HIV-Tests negativ ausgefallen sind, sei kein Grund zur Beruhigung: "Seit Anfang dieses Jahres gibt es wieder einen HIV-Infizierten." Wie groß das allgemeine Infektionsrisiko in den beiden Strafanstalten ist, zeigt die ungebrochen hohe Anzahl von Hepatitis-Fällen.

 

Eine nicht restlos greifende Aids-Aufklärung, ein anhaltend großes Infektionsrisiko in bestimmten Milieus und die Gefahr, dass Anti-HIV-Medikamente nicht richtig eingenommen werden, riskieren mittlerweile, Aids auch in Luxemburg zu einer Krankheit der Armen zu machen. Henri Goedertz von der Aidsberodung beobachtet einen Wandel in der von seiner Einrichtung betreuten Klientel: "Noch vor zehn Jahren hatten die meisten eine Arbeit, eine Wohnung, konnten für sich selbst aufkommen und hatten ein soziales Netz." Heute dagegen sei die bei der Aidsberodung angestellte Assistante sociale ausgelastet mit der Bearbeitung sozialer Anliegen, von der Zuerkennung von RMG bis hin zur Suche nach bezahlbarem Wohnraum. Und während in dem von der Aidsberodung unterhaltenen betreuten Wohnhaus Maison Henry Dunant früher alle Insassen nach sechs, spätestens zwölf Monaten eine eigene Unterkunft gefunden hätten, blieben mittlerweile immer mehr jahrelang dort wohnen.

 

Peter Feist
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