Kino

Mensch und System

d'Lëtzebuerger Land vom 08.11.2019

Seit den Anfängen seiner Filmkarriere, spätestens aber mit Cathy come home (1966), ist Ken Loach als entschlossener Anwalt des Proletariats auf den Plan getreten. Mit seinem jüngsten Film Sorry we missed you, der in Cannes um die Goldene Palme konkurrierte, knüpft er daran an: Ricky Turner (Kris Hitchen) und seine Familie haben Schulden. Als er einen neuen Van bekommt, bietet sich ihnen die Gelegenheit, der sozialen Misere zu entfliehen. Er wird als Fahrer bei einem Lieferservice engagiert und so will er sich seinen Lebensunterhalt wieder sichern. Doch die Arbeitswelt hat sich verändert und die neuen Umstände sind nicht nur für ihn äußerst hart. Aber auch seine Frau Abbie (Debbie Honeywood), die sich als Altenpflegerin engagiert, muss sich anpassen.

Ken Loach gewann bereits zweimal die Goldene Palme in Cannes: 2009 für das historische Irland-Drama The wind that shakes the barley und 2017 für I, Daniel Blake. Loachs Wurzeln sind zuvorderst in der British New Wave, dem kitchen-sink-Realismus anzusiedeln, jener sozialrealistischen Erneuerungsströmung im Britischen Kino der 1960er, die er noch mit Kes (1969) mitgestaltete und ein Klassenbewusstsein zeigt, das die sozialen Nöte der Menschen in Anlehnung an die Dokumentarfilmtradition wiedergibt.

Die Prekarität der Lebenssituation ist in gewisser Weise auch in Sorry we missed you der Motor des Films, er bringt den Film auf Touren und setzt seine Figuren in Bewegung. So wie noch Antonio (Lamberto Maggiorani) in Vittorio de Sicas Ladri di biciclette das Fahrrad brauchte, um seine Existenz zu sichern, so braucht Ricky Turner seinen Lieferwagen. Und auch wie im italienischen Neorealismus der 40er-Jahre kommt die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit schleichend zum Ausdruck. Loach führt uns in den Alltag dieses Ricky Turners ein: Wir begleiten ihn bei der Arbeit, aber beinahe überall wird er mit sozialer Kälte konfrontiert, Türen schließen sich ihm. Erst wenn er nach Hause kommt, ist er ganz bei sich. Die Familie als emotionaler Anker, aber auch als Ort proletarischer Identität, war für Loach immer schon von zentraler Bedeutung.

Loach wählt dafür keinen klassisch-melodramatischen Inszenierungsstil, sondern zeigt das Scheitern eines Mannes an den Mechanismen der Gesellschaft in Bildern, die eher dem Dokumentar- als dem Spielfilm zu entstammen scheinen. Der komplette Verzicht auf emotionale Filmmusik und die statische Kamera haben an dieser Wirkung erheblichen Anteil und so nimmt der Zuschauer eher eine Beobachterfunktion ein, ohne dabei aber die Nähe zum Hauptdarsteller aufgeben zu müssen. Überhaupt dominiert der klare Sympathiezuspruch für die Helden; der Film setzt besonders auf die sentimentalen Schauspielmittel seiner beiden Hauptdarsteller, derer er sich so bedient, dass beim Zuschauer starke Affekte ausgelöst werden sollen. Das entschieden moralische Interesse am Proletariat scheint überdeutlich durch und soll zur Positionierung bewegen. Sorry we missed you zeigt aber auch, wie die berufliche Misere immer mehr in den privaten Raum übergreift und sich dort wie ein Geschwür ausbreitet. Und je mehr der Protagonist sich anstrengt, die individuellen Nöte und die soziale Verpflichtung zueinander zu bringen, desto größer wächst die Entfremdung zwischen ihm und dem System, das er nicht mehr begreift. Und es ist dieses System der kapitalistischen Ausbeutung, das ihn brechen wird.

Fokussiert auf das britische Einzelschicksal des kleinen Mannes, legt Ken Loach den Finger auf die Wunde, die freilich auch internationalen Ausmaßes ist. Die Finanzkrise von 2008 ist dabei sicherlich ein kontextueller Bezugspunkt. Sorry we missed you spricht von der tiefen Verunsicherung in einer Gesellschaft, die sich ihren eigenen Widersprüchen mit einer Mischung aus Erschrecken und Fassungslosigkeit widmet; die endlose Spirale von Armutsbewältigung und Klassenkampf wird auch hier weitergeführt. Ken Loach löst seine Kritik an der Ungerechtigkeit dann auch nicht melodramatisch auf – viel eher fragt er, ob es überhaupt positive Lösungen geben kann in diesem System, in dem Menschen ohnehin keine Chance haben?

Marc Trappendreher
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