Die Glitzer-Glasfassaden auf dem Kirchberg, die schicken Schaufenster in der Grand-Rue, die verzierten Villen von Belair erscheinen hier weit weg: in der Rue Pierre Krier im Arbeiterviertel Bonneweg in Luxemburg-Stadt. Es ist ein kurzer dunkler Flur, es müffelt nach Frittenfett, eine kleine Treppe führt in den ersten Stock über dem Café. Yvette* öffnet die Tür: „Kommt herein, viel Platz habe ich nicht.“ Das ist untertrieben. Auf rund zwanzig Quadratmeter lebt die 47-Jährige mit drei Katzen. Im Studio, das zwei Fenster hat, vor denen Plüschrollen liegen, um die Zugluft abzudämmen, stehen zwei Holzstühle, ein Bett, ein Schrank: „Das alte war kaputt, da habe ich mir Bett und Schrank neu kaufen müssen“. Das Geld, 490 Euro, hatte sie sich über Monate zusammengespart. Denn Yvette lebt von RMG, dem Revenu minimum garanti, seit sie vor Jahren wegen chronischer Rückenschmerzen ihren Putzjob aufgab.
1 348,18 Euro monatlich bekommt sie vom Fonds national de solidarité überwiesen, so wie 10 193 andere Haushalte in Luxemburg (Stand 31.12.2015). Damit liegt ihr Einkommen unterhalb der Armutsgrenze von 60 Prozent des Medianeinkommens (1 715 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen). Früher hatte sie rund 300 Euro mehr, da arbeitete Yvette im Rahmen einer Eingliederungsmaßnahme bei Stëmm vun der Strooss Asbl, ihr RMG wurde bis zur Höhe des gesetzlichen Mindestlohns (heute: 1 922,96 Euro) aufgestockt. Doch als der Arzt bei ihr Grauen Star diagnostizierte und sie operiert wurde, musste sie die Arbeit aufgeben.
Vom RMG bleiben Yvette nach Abzug der Miete rund 500 Euro zum Leben. 730 Euro Miete verlangt der Eigentümer für das winzige Studio, dessen Stockflecken durch eine dünn aufgetragene Farbschicht Altrosa notdürftig verdeckt sind – und das ist vergleichsweise günstig: „Meine Nachbarin hat ein kleineres Zimmer und muss über 800 Euro zahlen, da habe ich Glück“, sagt sie und zeigt in Richtung Flur.
Seit Jahren mahnen Hilfsorganisationen wie die Caritas, die Wunnengshellëf und andere, dass die anhaltende Wohnungsnot die Ärmsten der Armen besonders hart trifft. Die Anzahl derer, die den Hauptteil ihres Einkommens für die Miete hergeben müssen, steigt seit Jahren; bei RMG-Empfängern liegt der Anteil besonders hoch, bei RMG-Haushalten mit Kindern noch höher, wie Statistiken des druckfrischen Sozialalmanachs der Caritas zeigen.
Sozialexperte und Mitherausgeber des Sozialalmanachs, Robert Urbé, drängt deshalb darauf, „endlich Nägel mit Köpfen“ zu machen und das RMG zu überarbeiten. Ein Entwurf liege seit Monaten im Familienministerium, „ohne dass es voran geht“. Von dort heißt es auf Land-Nachfrage lediglich, die Reform soll „um die Sommerpause fertig sein“, man sei dabei, sich mit anderen staatlichen Akteuren zu beraten. Angaben zur Höhe des reformierten RMG machte das Ministerium indes keine, außer die vage Formulierung: „weil das System umgebaut werde, könne man nicht von einer Erhöhung oder Nicht-Erhöhung sprechen“. Die Caritas hatte 2012 in einem aufwändigen Bericht verschiedene RMG-Szenarien durchgerechnet und kam zu dem erschreckenden Ergebnis: Alleinerziehende RMG-Empfängerinnen (deren Situation im Rahmen der Reform ebenfalls überdacht werden soll) sind besonders stark von Armut bedroht. Aber anderen RMG-Empfängern ohne Kindern geht es kaum besser; sie lägen ebenfalls unterhalb der Armutsgrenze.
Yvette würde am liebsten aus ihrem winzigen Studio ausziehen. „Aber ohne feste Arbeit finden Sie nichts“, winkt sie ab. In den Wohnungsanzeigen der Tageszeitungen findet sich oft ein klein gedruckter Zusatz, den andere vielleicht überlesen, der für Menschen wie Yvette aber das Aus bedeutet, bevor sie richtig mit der Suche begonnen haben: „Nur mit CDI (Contrat à durée indéterminée).“
Auch Achim* kennt das. Für seine Frau und die zwei Kinder sucht der 38-Jährige seit über einem Jahr eine größere Wohnung, zurzeit wohnen der arbeitslose Möbelpacker und seine Familie in einem 45-Quadratmeter-Apartment in Esch für 1 100 Euro im Monat zur Miete. „Wir müssen wohl bald raus.“ Seitdem er der Gemeinde gemeldet hatte, dass die Fenster undicht seien und die Nebenkostenabrechnung dubios wirke, mache der Eigentümer Druck. „Der will uns raushaben“, ist Achim überzeugt. Laut Jahresendabrechnung soll er 800 Euro für Heizkosten und 700 Euro für Wasser nachzahlen. „Die Wohnung hat keinen eigenen Wasserzähler. Wie kann ich das überprüfen?“ Auf die Schnelle eine andere Wohnung zu finden, sei aussichtslos, sagt Achim. „Die Vermieter wollen keine Arbeitslosen, aber wo einen Job finden?“, fragt er ratlos. An Motivation mangele es ihm nicht, unterstreicht er: Seit er seine alte Beschäftigung verlor – sein ehemaliger Chef hatte ihn gefeuert, nachdem Achim die vielen unbezahlten Überstunden, die nicht-gegebenen Urlaubstage bei Gewerkschaft und Gewerbeinspektion angezeigt hatte –, sei er bei der Arbeitsverwaltung eingeschrieben. „Aber für mich haben die nichts“, sagt er. Inzwischen bekam er von einem anderen Anbieter Hilfe, seinen Lebenslauf neu zu formulieren, mit der Adem ist er unzufrieden: „Mein Vermittler hat mir Stellen als LKW-Fahrer angeboten, dabei habe ich gar keinen Führerschein.“ Seit Januar arbeitet er im Restaurant von Stëmm vun der Strooss in Hollerich am Tresen, wo er gerade eine Cola ausschenkt.
Davon, dass die blau-rot-grüne Regierung das RMG reformieren will, hat Achim gehört, aber er verspricht sich nicht viel davon: „Die haben doch von unserem Leben keine Ahnung“, sagt er achselzuckend und zeigt in die Runde. Es ist Viertel vor 12 und das Restaurant ist bis auf den letzten Tisch besetzt. „Das konnte man beim Kindergeld sehen“, fällt ihm eine weißhaarige Frau erregt ins Wort. Den Vorwurf, die Politiker kümmerten sich nicht um die Armen, kann man in den Räumen von Stëmm vun der Stroos, der Vollekskichen oder dem Foyer Ulysse öfters hören. Oft wird er zornig formuliert.
„Theoretisch sollte ich für Miete nicht mehr als ein Drittel meines Einkommens ausgeben“, rechnet Achim vor. „Dann müsste ich 3 300 Euro bekommen. Meine Frau ist Invalidin, sie hat das Statut Travailleur handicappé. Gemeinsam kommen wir auf 2 400 Euro.“ Die Regierung, sagt er, habe trotz vollmundiger Versprechen, besonders den Bedürftigen zu helfen, nichts an der Wohnungsnot geändert. „Das ist das dringendste Problem“, findet er und seine Arbeitskollegin nickt bekräftigend. An den „Wucherpreisen“ habe auch der seit 1. Januar gültige staatliche Mietzuschuss nichts geändert: „Bei mir soll er im RMG enthalten sein. Mehr Geld zur Verfügung habe ich dadurch aber nicht. Dabei wird alles immer teurer.“ Bis zu 300 Euro legt der Staat zu einer Miete bei, Schätzungen zufolge hätten rund 19 000 Haushalte Anspruch auf den Mitzuschuss. RMG-Bezieher sowie Studierende können die Hilfe ebenfalls beantragen, sie kann aber nicht mit der aktuell gültigen Aufstockung des RMG im Mietfall kumuliert werden, sondern ersetzt diese.
Um über die Runden zu kommen, versuchen Achim und seine Frau beim Einkauf zu sparen. Zum Glück habe er zwei Söhne, da müsse man nicht immer neue Kleidung kaufen. „Wir gönnen uns nichts mehr. Wir gehen zum Cactus, zu Delhaize, Cora, aber auch zu Aldi oder Lidl. Eben dorthin, wo es am günstigsten ist. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal Urlaub hatte.“ Er selbst esse öfters in der Stëmm vun der Strooss-Kantine, aber „zuhause zu kochen ist billiger“, weiß der Familienvater. In der neuen Kantine in der Rue de la Fonderie in Hollerich ist die Zahl der ausgeteilten Mahlzeiten im Vergleich zu 2013 (27 192 Essen), als das Restaurant noch in Bonneweg war, auf 45 722 gestiegen. So groß war der Andrang, dass Stëmm-Leiterin Alexandra Oxacelay im September Alarm schlug. Binnen drei Jahren sei die Zahl der Besucher um über 70 Prozent gestiegen. Dass liege daran, das in Hollerich mehr Obdachlose wohnten, aber vor allem an einer steigenden Armut in Land. Nicht umsonst hat die Caritas ihren Anfang dieser Woche vorgestellten Sozialalmanach 2016 dem Thema Ungleichheiten gewidmet. Die Armut in Luxemburg verfestige sich immer weiter, warnte Robert Urbé bei der Vorstellung am Dienstag. Jahr um Jahr meldet die Statistik neue Schreckenszahlen zum Armutsrisiko, Kinder und Alleinerziehende sind besonders stark betroffen (siehe Seite 4). Aller Sonntagsreden zum Trotz ist die Not nicht weniger geworden, die Schere zwischen Arm und Reich klafft noch weiter auf.
„Gebt uns ordentliche Arbeit, dann wäre das größte Problem gelöst“, fordert Achim. Er will „keine Almosen vom Staat“, sondern lieber „wieder mein eigenes Geld verdienen“. Mit 6,5 Prozent liegt die Arbeitslosenquote in Luxemburg so niedrig wie seit 2008 nicht mehr. Doch Geringqualifizierte wie Achim oder Yvette haben kaum etwas davon: Sie sind tendenziell länger arbeitslos und oft haben sie nicht nur ein Problem. So dass an ein schnelles Freistrampeln nicht zu denken ist: Neben fehlendem Schulabschluss und brüchiger Erwerbsbiografie kommen häufig persönliche Probleme hinzu. Die DP-LSAP-Grüne-Regierung will RMG-Empfängern, die „Kapazitäten dafür haben“, stärker aktivieren, andere sollen „sozial stabilisiert werden“. Was immer das heißen mag.
Achim trinkt nicht, sagt er. Im Winter hatte er sich jedoch wegen Depressionen behandeln müssen: Der Stress auf der Arbeit, der Kampf gegen einen ungerechten Chef, vor allem aber die gefühlte Leere, als er plötzlich ohne Beschäftigung und Lohn da saß, hatten ihn völlig ausgelaugt und waren ihm aufs Gemüt geschlagen. Nach ein paar Visiten beim Arzt brach er die Behandlung aber ab: „Er konnte mir nicht helfen und ich habe eine Familie, die ich nicht hängen lassen kann.“ Yvette dagegen scheint sich mit ihrem Leben abgefunden zu haben. Eine Arbeit zu finden, sei extrem schwierig: „Ich habe keine Ausbildung.“ Jobs hatte sie viele: als Putzfrau, im Empfang, auch bei einer Gemeinde hat sie schon gearbeitet. Das war früher. „Ich habe genug vom Leben gesehen“, sagt Yvette und schweigt mit einem Mal. Heute findet ihr Leben zwischen Stëmm vun der Strooss, Vollekskichen, einer Hand voll Freunden und ihrer Wohnung statt. Zwanzig Jahre wohnt sie in dem Zimmer mit Kochnische und WC und obwohl sie fürs Fernsehgucken und im Fall von Besuch stets auf dem Bett sitzen muss, so eng ist der Platz, hat Yvette ihr Lachen nicht verloren. „Immerhin habe ich ein Dach überm Kopf“, sagt sie und drückt ihre Katze. „Auf der Straße zu leben, das wäre wirklich schlimm.“