Kann es zuviel Solidarität geben?

Die Betroffenheit der Unbetroffenen

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2016

Die Sache ist ein wenig delikat. Unter normalen Umständen würde man angesichts der allgemeinen Verrohung der Sitten und der Ich-zentrierten Selfie-Kultur meinen, dass es nie zu viel Solidarität geben kann. Doch da seit Monaten wortwörtlich Ausnahmezustand herrscht, drängt sich mittlerweile die heikle Frage auf, ob es auch zu viel Empathie geben kann, beispielsweise mit Terroropfern und das besonders im Internet?

Angefangen hat es mit den Attentaten auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo. In Windeseile verbreitete sich in den sozialen Netzwerken der Spruch „Je suis Charlie“ auf schwarzem Hintergrund als Profilbild. Eine Art Gruppenzwang entstand, sich gleichzuschalten. Wer nicht mitmachte, musste sich fragen, ob er/sie noch ganz richtig im Kopf sei und die eigene Moral intakt, wenn er/sie, angesichts des Massakers, das die Terroristen angerichtet hatten, nicht mit dem Rest der via Facebook und Twitter eng verbundenen Welt solidarisch sein wollte. Mordende, menschenverachtende Terroristen einerseits; intellektuelle, freiheitsliebende Journalisten andererseits – keine Frage, auf welcher Seite man stehen wollte.

Auf der Place Clairefontaine weinte der Luxemburger Regierungschef Xavier Bettel (DP), von Bodyguards bewacht, bei einer Schweigeminute echte Tränen, obwohl er keines der Opfer kannte. In einer nie dagewesenen Geste marschierten seine Amtskollegen anderer Länder Arm in Arm über einen abgeriegelten Pariser Boulevard.

Schon da zeichnete sich ab, dass es mit der Betroffenheit der Unbetroffenen nicht ganz so einfach werden würde. Denn welche Steigerung der öffentlich zur Schau gestellten Entrüstung wäre nach Charlie noch möglich, beispielsweise bei einem Anschlag mit mehr Opfern? Wie würde der Premier reagieren, gäbe es ein Attentat in Luxemburg? Er könnte sicherlich noch bitterlicher weinen. Aber wäre er dann noch Herr seiner Selbst und der Lage, also imstande, das Land weiter zu regieren? Und ab welchem Zeitpunkt genau würde die Abscheulichkeit des zwölffachen Mordes weniger abscheulich, so dass es wieder schicklich wäre, zur Tagesordnung überzugehen und das schwarze „Je suis Charlie“ im Profilbild wieder durch das eigene Selbstbildnis zu ersetzen – vielleicht mit einem saisongerechten Schnappschuss vom Karnevalsumzug? Die Terroropfer sind schließlich immer noch tot, das ist und bleibt eine Sauerei.

All jenen, die sich des definitiven Charakters dieser Entsetzlichkeit bewusst waren und konsequenterweise auch Monate später noch mit Trauerflor im Internet auftraten, boten die Terroristen einen Ausweg aus der Eintönigkeit. Sie richteten im November ein neues, noch größeres Massaker an. Aus „Je suis Charlie“ wurde „Je suis Paris“. Den schwarzen Fahnen des Islamischen Staates trat die Gemeinschaft der vom Terror nicht direkt Getroffenen entgegen, indem sie in ihrem Profilbild die Tricolore hissten. Flagge gegen Flagge sozusagen – das dürfte die Terroristen nachdrücklich beeindruckt haben. Als die Sympathie-Bekundungen mit den Opfern religiös begründeten Terrors mit dem Hashtag #PrayforParis versehen wurden, und das von Leuten, die das Glaubensbekenntnis für eine glutenfreie Diätkur halten, konnte man sich einen kurzen Augenblick lang fragen, ob es sich dabei um eine humorvolle Aktion der subversiveren Art handelte. Diese Hoffnung löste sich spätestens dann in Luft auf, als aus #PrayforParis, PrayforParis® wurde, und jemand den Trauerspruch als Marke anmeldete.

Ob es auf diese ekelhafte Geschäftemacherei mit dem Elend anderer Menschen zurückzuführen ist, dass #PrayforPakistan sich als Trend auf den sozia­len Netzwerken nicht ganz so erfolgreich durchsetzte, als vergangene Woche in Lahore Selbstmord­attentäter den österlichen Frieden sprengten und viele (Christen-) Kinder in den Tod rissen? Oder daran, dass das Attentat nicht vom IS, sondern von der in den Medien und bei radikalisierten Jugendlichen nicht mehr ganz so trendigen Al-Kaida-Bewegung verübt wurde?

Über das Lahore-Attentat Bescheid wusste die Facebook-Community auf jeden Fall. Denn der Konzern aus den USA hatte versehentlich seinen Safety-Check, der Mitgliedern in Gefahrengebieten durch die Fragen „Are you OK? It looks like you are in the area affected by the explosion?“ erlaubt, Familien und Freunden – sofern sie ebenfalls Facebook-Mitglied sind – mitzuteilen, dass es ihnen gut geht, versehentlich an Anhänger außerhalb Pakistans verschickt, die gemütlich auf dem Sofa lagen. Für dieses Malheur, mit dem die Firma alle verunglimpfte, die tatsächlich in der Nähe der Explosion waren, musste sich Facebook alsbald entschuldigen.

Vielleicht aber waren, als es in Lahore krachte, auch einfach viele, die selbst noch kein Attentat mit- und überlebt haben, noch zu sehr damit beschäftigt, ihre virtuelle Identität mit ein wenig Kreativität an die Brüsseler Attentate anzupassen, die vor der eigenen Haustür stattfanden und mit einer neuen Flagge, Manneken Pis und Fritten ein wenig mehr Spielraum bei der individuellen Gestaltung der Solidaritätsbekundungen ermöglichen. Nach „Charlie“ und „Paris“ konnte man ja schließlich nicht so tun, als sei in „Bruxelles“ niemand gestorben – wer einmal „je suis“ sagt, muss sich etwas einfallen lassen, um im Wettlauf der Entrüstung nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Da ist es hilfreich, dass die moderne Technik es richtigen Opfern heutzutage erlaubt, die eigene Evakuation aus dem U-Bahn-Schacht mitzufilmen und quasi live zu streamen – im Hintergrund ertönen die Schreie der Verletzten, die es aus eigener Kraft nicht mehr ans Tageslicht schaffen. Diese Hobby-Snuff-Filmer erweisen denjenigen, die die Attentate nur im Live-Ticker traditioneller Medien verfolgen können, einen großen Dienst, indem sie ihnen die Möglichkeit geben, ein Trauma davon zu tragen, ohne je in wirklicher Gefahr gewesen zu sein.

Umso größer ist danach deren Aufschrei über die Barbarei der Attentäter im Netz. Die drückt sich in der Regel in Großbuchstaben und mit Hashtag aus: #AUFSCHREI, also, statt Aufschrei. Ob die Gefühle dadurch echter und wahrer werden? Die Freunde und Anhänger „mögen“ es in der Regel, was sicherlich das Solidaritätsgefühl steigert und Bestärkung bringt.

Aber umso mehr Anschläge die Terroristen verüben, umso heikler wird das mit der Empathie und dem Mitgefühl. Statt den Brüsseler Opfern die gleiche Ehre zu erweisen wie den Charlie-Mitarbeitern und beim nächsten EU-Gipfel – beispielsweise über die Solidarität innerhalb Europas bei der Verteilung der Flüchtlinge – die Staats- und Regierungschefs in der Verhandlungspause die Rue de la Loi runter bis zur Metro von Maelbeek defilieren zu lassen, wurde lieber nach altbewährter Manier ein Kranz niedergelegt. Das wirft natürlich die Frage auf, ob ein Journalistenleben mehr wert ist, als das von Fahr- und Fluggästen oder Konzertbesuchern. Es ist aber logistisch weniger aufwendig und es gibt dafür ein festes Protokoll. Außerdem kann ja niemand ausschließen, dass es weitere Attentate gibt und wie oft sollen die Chefs denn noch marschieren?

Darüber hinaus müssen sich jene, die ihre Erschütterung über den Terror oder auch das Leid der Flüchtlinge nicht öffentlich zu Schau stellen, immer dringender fragen, was ihre Gefühle ohne „Hashtag“ und „Likes“ von Freunden noch wert sind. Und ob man die Opfer und diejenigen, die mit ihnen fühlen verhöhnt, wenn man solche Fragen stellt? Oder ob es im Endeffekt nicht doch zynischer ist, wenn die Empathie immer öfter Instrument der Selbstinszenierung wird? Beispielsweise wenn man wie Sylvia Camarda „aus Solidarität“ in der Abflughalle in Findel tanzt, sich filmen lässt, das Video ins Netz stellt, damit die Anhänger ihr in den Online-Kommentaren Beifall klatschen und bescheinigen, eine schöne Frau zu sein. Was genau die Toten von Brüssel-Zaventem und ihre Angehörigen von solch danebengegangenen Solidaritätsaktionen haben, bleibt ungewiss.

Michèle Sinner
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