Großbritanniens Europa-Kurs

Mayday

d'Lëtzebuerger Land vom 16.06.2017

Im Nachhinein ist man immer schlauer, klüger und bekommt viele wertvolle Tipps und Lebensweisheiten von Freunden und solchen, die es noch werden möchten oder gar nicht erst sein wollen. So erging es auch der britischen Premierministerin Theresa May am vergangenen Wochenende. In der Nacht zum Freitag musste sie erkennen, dass sie hoch gepokert und alles verloren hatte. Zwar hatte sie – als sie im April überraschend und ohne Not Neuwahlen in Großbritannien ausrief – ein gutes Blatt auf der Hand, doch gab sie es in einem ungeschickten Wahlkampf nach und nach aus der Hand. Nun hat May die Quittung bekommen, statt mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet in Brüssel selbstbewusst in die Brexit-Verhandlungen einzusteigen, kommt nun eine Premierministerin auf Abruf, die sich jeden Verhandlungsschritt von ihrem möglichen Koalitionspartner, parteiinternen Gegenspielern und auch von der Opposition bestätigen lassen, wenn nicht sogar erkaufen muss.

Durch die Wahl vom vergangenen Donnerstag sind die Verhandlungen zum Brexit ungleich schwieriger geworden – vor allem innenpolitisch. Wenn May auch dachte, die Wahl mit Brexit-Härte gewinnen zu können, wurde die politische und gesellschaftliche Agenda durch die Anschläge von Manchester und London bestimmt. Der Brexit trat gegenüber Terrorismus und Innere Sicherheit in den Hintergrund. Auch weil viele Briten des Themas überdrüssig sind, denn sie wissen nicht einmal, was die Tories und allen voran Premierministerin May über den Brexit denken, was sie von Brüssel fordern, was sie von Europa wollen. Höchstens, dass Großbritannien weiterhin alle Vorteile der Europäischen Union haben möchte, also im europäischen Binnenmarkt und der Zollunion verweilen will und weitere Sonderkonditionen aus Brüssel bekommen soll – ohne sich an den Kosten und Lasten zu beteiligen. Das ist Wunschdenken oder Verhandlungssache.

Doch dafür hat May gar keine Zeit: Sie muss sich jetzt um ihr politisches Überleben kümmern und eine handlungsfähige Regierung zusammenstellen. Dazu will sie eine Minderheitsregierung unter Duldung der nordirischen, nationalkonservativen, protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) bilden. Dies birgt zwei Unsicherheitsfaktoren: Die zehn Abgeordneten der DUP werden ihre Unterstützung des Kabinetts von May einiges kosten lassen. Zudem müssen die sieben Sinn-Fein-Abgeordneten auch in der kommenden Legislaturperiode weiterhin auf ihren Sitz im Unterhaus verzichten, damit die Mehrheit steht. Gelingt es May, diese Minderheitsregierung zusammenzubekommen, ist sie als Premierministerin und Parteivorsitzende bestätigt, was nicht heißt, dass die interne Führungsdebatte bei den Tories verstummen wird. Für diesen Machterhalt zahlt Theresa May einen hohen Preis: Sie wird jede einzelne Stimme der Tories und der DUP brauchen, um Entscheidungen – auch den Brexit betreffend – durch das Parlament zu bringen. Die DUP wird als Gegenleistung Zugeständnisse in Nordirland einfordern, wo die Regierung derzeit suspendiert ist. Diese werden den Status-quo und den Friedensprozess in der Region gefährden. Die Regierungskoalition in Belfast droht zu zerbrechen, weil Sinn Fein kaum Teil eines nordirischen Kabinetts sein kann, wenn die DUP in London mit den Tories gemeinsame Sache macht.

Die EU-Verhandlungspartner drücken derweil aufs Tempo: Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa kennt wenig Pardon. Trotz des Wahldesasters von May will sie am Zeitplan festhalten und rasch mit den Verhandlungen zum Ausstieg Großbritanniens aus der EU beginnen. „Wir wollen zügig verhandeln, wir wollen im Zeitrahmen verhandeln“, sagte Merkel während ihres Staatsbesuches in Mexiko Ende vergangener Woche. „Und deshalb glaube ich, dass zur Stunde nichts dagegenspricht, dass die Verhandlungen – wie das auch beschlossen wurde und verabredet wurde – beginnen können.“ Dies gelte auf jeden Fall für die Seite der verbleibenden 27 Staaten der Gemeinschaft und der beteiligten Institutionen der EU. „Wir von unserer Seite sind verhandlungsbereit und vorbereitet.“ Wenn auch Theresa May stets versichert, dass London den Zeitplan einhalten zu wollen, geben andere das Tempo vor. Ab Montag soll der Brexit verhandelt werden. Die britische Tageszeitung The Independent zitiert Londoner Regierungskreise, wonach die Brexit-Verhandlungen durch das ungeschickte Lavieren Mays um über ein Jahr verzögert würden.

Auf der anderen Seite wissen die Europäer jedoch nicht, was die Briten wollen und wem sie verhandeln werden. Unbestätigte Presseberichte machen die Runde, es gebe in London geheime Verhandlungen zwischen Tories und Labour für einen weichen Brexit. Ob May an diesen Runden teilnimmt, ist unklar. Sie hatte sich stets für einen harten Schnitt eingesetzt, oder wie sie sagte: „Lieber keinen Deal als ein schlechter.“ Nun wird es spannend, welche Position sich durchsetzen wird. Gerade in Hinblick auf solch komplizierte Themen wie die Duldung der bereits im Vereinigten Königreich lebenden EU-Ausländer oder die Übernahme bestehender finanzieller Verpflichtung in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro zu akzeptieren. Mehr noch: Es steht grundsätzlich in Frage, ob die Verhandlungen in der vertraglich festgesetzten Frist von zwei Jahren bis zum 29. März durchgezogen werden können. Diese Frist kann zwar verlängert werden. Doch müssten dies die 28 derzeitigen EU-Mitgliedsstaaten beschließen. Einstimmig.

Martin Theobald
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