„Neen.“ Die zwei jungen Frauen an der Bushaltestelle schütteln energisch den Kopf. Von der bevorstehenden Abtreibungsreform haben sie noch nichts gehört. Eine Meinung haben sie trotzdem dazu. „Die Frau soll selbst entscheiden, schließlich ist es ihr Körper und ihr Leben“, sagt Senida, 16 Jahre alt. Ihre Freundin sieht das etwas anders. Eine Beratung „wär schon gut, aber beim Doktor. Sie muss doch wissen, was der Eingriff bedeutet“, findet Sabrina, ebenfalls 16 Jahre alt.
Seitdem ein Kollektiv aus Privatpersonen, Frauenorganisationen und Jugend-Parteisektionen im Frühjahr zur Unterzeichnung der Petition „Si je veux – pour l’autodétermination de la femme“ aufgerufen hatte, die von knapp 3 500 Frauen und Sympathisanten unterschrieben wurde und sich für die Straffreiheit bei Abtreibung und gegen eine Pflichtberatung einsetzt, ist es still um das Thema geworden. Hätte nicht die Menschenrechtskommission sich selbst mit der Reform befasst und ihr Gutachten diese Woche vorgestellt, wären wohl alle still und friedlich in die Weihnachtsferien gegangen.
Das Gutachten ist Wasser auf die Mühlen der Gegnerinnen und Gegner des Entwurfs von Justizminister François Biltgen (CSV). Hauptkritikpunkt für die Menschenrechtler: Die Regierung habe die Reform des Abtreibungsgesetzes von 1978 angepackt, um wie im Exposé des motifs steht, der Resolution „accès à un avortement sans risque en Europe“ des Europarates in Straßburg Rechnung zu tragen. Darin hatten die Parlamentarier unter anderem gefordert „à respecter la liberté du choix de la femme et à offrir les conditions d’un choix libre et légal“. Statt heimlich im In- oder Ausland abtreiben zu müssen, sollen schwangere Frauen, die ihr Kind nicht austragen wollen, in Luxemburg medizinisch sicher abtreiben können.
Dazu führt die Regierung die Indikation der „détresse d’ordre physique, psychique ou social“ ein sowie die verpflichtende Beratung mit anschließendem Zertifikat. Ein Widerspruch – findet die Commission de droit de l’homme (CCDH): „S’agissant de l’obligation de cette consultation ... la CCDH s’interroge sur la comptabilité de cette obligation avec ce principe de l’autodétermination de la femme“ heißt es im Avis. Die Komis-sion empfiehlt das freiwillige Beratungsangebot beizubehalten, „ayant pour seul objectif d’informer et de conseiller les personnes qui le désirent“ und folgt damit der Auffassung des Staatsrates. Der hatte seinem Gutachten vom Juli ebenfalls an der Diskrepanz zwischen mehr Selbstbestimmung auf der einen, und einer Pflichtberatung auf der anderen Seite Anstoß genommen. Eine Beratung sieht bereits das gültige 1978-er-Gesetz vor: Eine Abtreibung ist demnach nur dann innerhalb der ersten zwölf Wochen straffrei, wenn die Frau sich zuvor von einem Arzt ihres Vertrauens beraten lässt. „Se pose la question de la plus-value qu’aporteraient le caractère obligatoire d’une telle consultation, du moment ou la loi garantirait qu’elle doit être explicitement proposée par le médicin lors de la prémière consultation“, fragt der Staatsrat, der damit zum zweiten Mal, nach seinem aufgeschlossenen Gutachten zur Homoehe, einen progressiven Kurs in einer gesellschaftlich umstrittenen Debatte einschlägt. Sehr zum Ärger der CSV, in deren Reihen das Gutachten für reichlich schlechte Laune gesorgt haben soll. Vielleicht hat deshalb das Luxemburger Wort die Meldung über das Gutachten so kurz gehalten – um Gegenargumenten nicht zu viel Raum zu geben und die Diskussion nicht unnötig anzuheizen?
Denn es droht gewiss ein neuer Streit. Dass es bei der zusätzlichen Beratungspflicht weniger um die weibliche Selbstbestimung geht, sondern vielmehr um die moralische Bevormundung durch katholische Ideologen, hatten Frauenorganisationen wie der Cid-Femmes direkt nach Vorlage des Gesetzentwurfs gewarnt. Die Überschrift des Abtreibungsartikels 353 „des crimes et de délits contre l‘ordre de familles et contre la moralité publique“ im Code pénal dspricht Bände. Wie berechtigt zudem die Zweifel an der versprochenen Neutralität der zweiten Beratung sind, belegen Dokumente aus dem Familienministerium, die dem Land vorliegen und aus denen auch die Menschenrechtskommmission zitiert: Obwohl die Beratungen in der parlamentarischen Justiz- und in der Familienkommis-sion noch nicht begonnen haben – das soll im neuen Jahr geschehen – haben fleißige Beamte im CSV-geführten Familienministerium schon mal die Beratungsbedingungen festgelegt. Demnach sollen, neben dem Planning familial, der bisher hauptverantwortlich die Schwangerenberatung über- sowie Abbrüche vorgenommen hat (bisher 347 für 2010), auch die Initiativ Liewensufank und das katholische Familljenzenter beraten (und bescheinigen) dürfen. Laut einem unveröffentlichten Avant-projet de règlement grand-ducal muss die Beratung über folgende Hilfen aufklären: Familien- und Mutterhilfen, medizinische und pränatale Untersuchungen sowie deren Rückerstattung durch die Krankenkasse, Hilfen für Behinderte, juristische, pyschologische und soziale Aspekte einer Adoption.
„Von Neutralität kann keine Rede sein. Das klingt klar so, als solle eine schwangere Frau dahin gehend beraten werden, das Kind doch zu bekommen“, ärgert sich Viviane Loschetter von Déi Gréng. Auch die sozialistische Abgeordnete Lydie Err, die 2007 mit ihrem Gesetzesvorschlag die Debatte überhaupt ins Rollen brachte, aber mit einer Pflichtberatung „leben kann, wenn die Kriterien stimmen“, ist entrüstet: „Die Konditionen sind total inakzeptabel“, schimpft sie. Bemerkenswert: Nicht in der Liste aufgeführt ist die Aufklärung über medizinische und psychische Folgen für die Frau, über den Ablauf einer Abtreibung und über die Nachsorge.
„Dabei sind das die Fragen, die Frauen, die zu uns kommen, zuerst stellen“, weiß Danielle Iginiti aus Erfahrung. Für die Präsidentin des Planning familial ist der Vorschlag „völlig daneben“ und ein Beweis dafür, dass die Christlich-Sozialen die Beratung dazu missbrauchen wollen, um „moralischen Druck gegen die Frauen“ aufzubauen. „Ergebnisoffen bedeutet nach beiden Seiten“, betont Igniti, die besonders die Arbeitsteilung fuchst: Während das Planning familial sowohl Beratung als auch die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs anbietet, wollen sich die anderen Organisationen offenbar auf die Beratung beschränken. Die Initiativ Liewensufank hat zur Abtreibungsreform öffentlich keine Stellung bezogen, schreibt in ihren Statuten aber: „Unser Ziel ist es, Bedingungen zu fördern und herbeizuführen, damit Schwangerschaft, Geburt und Säuglingszeit von Kind und seinen Eltern unter optimalen Bedingungen erlebt werden“. Dafür sei es nötig, Beratung und Schwangerschaftsabbruch räumlich zu trennen. „Und wir sollen dann die Abtreibungen erledigen und stehen dann als Abtreibungsbefürworter da?“ fragt Igniti erbost. Sie droht: „Entweder machen alle beides oder wir steigen aus.“
Dass sich die Neuen darauf einlassen, ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Laut den Statuten des Familljenzenter, die unter der frisch gekürten Präsidentin Erna Hennicot-Schoepges (CSV) im August geändert wurden, bietet das Zentrum „l’accom-pagnement psycho-social et socio-éducatif de situations de grossesses difficiles, conflictuelles et/ou non-désirées“ an. Von einem medizinischen Angebot steht weit und breit nichts – das passt auch nicht in die Ideologie. Man orientiere sich an der „vision chrétienne de l’être humain“. Alles ganz neutral?
Was für einen Bumerangeffekt eine konfessionell gebundende Zwangsberatung haben kann, mussten Frauen Mitte der 90-er Jahre in Bayern am eigenen Leib erfahren. Nachdem nach langem Kampf in Deutschland 1991 die Indikationslösung mit Zwangsberatung beschlossen wurde, bliesen rechtskonservative Klerikale mit Unterstützung aus Rom zum Gegenangriff. Ein Bischof polemisierte gegen die „Lizenz zum Töten“ und vor allem im katholischen Süden zogen sich Beratungsstellen der Caritas aus der Beratung zurück. Die Frauen konnten sehen, wo sie bleiben. Wer das Geld hatte, wechselte in ein anderes, liberaleres Bundesland, um sich die Beratung bescheinigen zu lassen oder fuhr in eine Klinik ins Ausland, ohne Pflichtberatung. Wegen der öffentlichen Empörung und weil auch Katholiken die moralinsauren Attacken ihrer Glaubensbrüder (und einiger Schwestern) missbilligten, nahmen die katholischen Beratungsstellen ihre Arbeit wieder auf. Etliche weigerten sich jedoch weiterhin, den Beratungsschein auszustellen. So vergiftet war das Klima, dass rechtskonservative Politiker nicht davor zurückschreckten, Ärzte, die Abtreibungen durchführten, öffentlich zu outen. Dass das kein abwegiges Szenario für Luxemburg ist, zeigt die populistische Aktion des ADR-Abgeordneten Fernand Kartheiser, der dem Staat im März diesen Jahres vorgeworfen hatte, mit dem Cid-Femmes eine Organisation zu finanzieren, die „für eine straffreie Ermordung von noch nicht geborenen Kindern“ eintrete. Es ist noch nicht lange her, dass ein Papst auf demokratische Abstimmungen in der Abgeordnetenkammer Einfluss zu nehmen versuchte, was ihm zwar die Gefolgschaft vom Großherzog brachte, das Land aber an den Rand einer Verfassungskrise führte.
Ärger könnte noch von einer anderen Seite drohen: von den Ärzten. In einem Interview mit der Wochenzeitung Woxx kritisierte der Präsident der Sociéte luxembourgeoise de gynécologie et d’obstétrique, Robert Lemmer, den CSV-LSAP-Kompromiss mit klaren Worten: „Wir registrieren mit Betroffenheit, dass auch in dem neuen Gesetzesprojekt keine Straffreiheit vorgesehen ist.“ Auch von der Pflichtberatung hält Lemmer nichts: „Es wird mit den Gynäkologen und den Pa-tienten umgegangen, als wären sie unmündig.“ In ihrem Avis, den die Gynäkologen bereits 2008 anlässlich der Gesetzesinitiative von Lydie Err vorgelegt hatten, forderten sie die Straffreiheit für Abtreibungen bis zwölf Wochen – ohne Indikation.
Wie wackelig Abtreibungsgesetze auf der Basis genehmigter Indikationen sein kann, zeigt ein Fall, der den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigte: Eine schwangere Frau aus Polen, die an einem schweren Augenleiden erkrankt war, hatte ein Arzt geraten, das Kind nicht auszutragen, um ihr Augenlicht nicht zu verlieren. Andere Ärzte wiederum hatten auf die Geburt bestanden. Als das Baby gegen den Willen der Frau per Kaiserschnitt zur Welt kam, erblindete sie fast und konnte die Kinder nicht mehr selbstständig erziehen. Der EGMR sah in dem Abbruch einen Verstoß gegen Artikel 8 der Menschenrechtskonvention, dem Recht auf Achtung des Privatlebens, und rügte zudem den polnischen Gesetzgeber, weil dieser es versäumt habe, Konfliktfälle zu regeln. Das Gleiche könnte Luxemburg drohen, denn auch hier fehlen Regelungen für den Fall, dass Frau, Ärzte und Berater zu unterschiedlichen Positionen kommen. Weil die Einschätzung einer Notlage (détresse) laut Staatsrat „ne peut être qu’une perception intrinsique de la femme“, plädiert das Gremium dafür, wie in Frankreich und Belgien, die Notsituation nicht näher zu definieren.
Starke Argumente also für die Gegnerinnen des Gesetzentwurfs, die der schwarz-roten Koalition in den kommenden Monaten noch mächtig Kopfzerbrechen bereiten dürften.