„Ein Schauspieler muss Fundament haben“, fordert ein älterer Herr im Foyer des Berliner Arbeiter Theaters (BAT) im Prenzlauer Berg. „Ein Fundament, das ist sehr wichtig.“ Er wartet wie viele andere im viel zu kleinen Vorraum des Studio-theaters auf Einlass an einem kalten Freitagabend. „Auf dem Fundament kann man aufbauen, die Figur entwickeln, spielen.“ Es wird Kampf des Negers und der Hunde von Bernard-Marie Koltès gegeben. Jenes Achtziger-Jahre-Stück, das ein wenig vom westlichen Gutmenschentum handelt, so wie man vor dreißig Jahren einfach nur verständnisvoll, rücksichtsvoll und auch ein wenig vorwurfsvoll zum Rest der Welt sein wollte. „Wenn ein Schauspieler kein Fundament hat, dann wird das nix“, resigniert der ältere Herr, dem das Professorenhafte aus jeder Pore seines Daseins strömt. „Wenn er kein Fundament hat, dann soll er zuhause bleiben.“ Ihm hört eine Mutter zu, weder verwandt noch verschwägert. Verzweiflung liegt in ihren Augen. „Meine Tochter hat das alles. Sie ist begabt. Sie will nur mal vorsprechen.“
Es ist ein Abschlussabend. Die Semester der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, die das BAT als Bühne nutzt, zeigen, was sie gelernt haben – im vergangenen Jahr. Ob sie Fundament haben als Schauspielerin oder Schauspieler. Darunter auch Max Thommes. „Viertes Studienjahr Schauspiel“, heißt es im Programmzettel über ihn. Mehr nicht. Durch die Tür des Theaterraums dringen Initialisierungsrituale der Eleven. Es klingt nach Chackachacka und Über-heiße-Kohlen-laufen. Dann betritt man das Theater über die Bühne und sieht den Jungschauspieler in seinem Element. Von der ersten Sekunde an, im Vorspiel zum Schauspiel. Thommes als Horn gibt alles und die übrigen Darsteller versuchen Schritt zu halten. Was misslingt. Sylvana Schneider als Léone, Moritz Kienemann als Cal und auch Rouven Stöhr als Alboury warten darauf, dass Thommes ihnen das Stichwort zum Einsatz gibt. Es schmerzt ein wenig, diesen drei beim Scheitern zuzuschauen.
Thommes bestimmt das Stück, ohne es zu dominieren. Er drängt sich nicht in den Vordergrund, aber hält die Fäden in der Hand. Thommes fasst das Stück an. Er füllt die Bühne mit seiner Präsenz und mit seinem Schauspiel, mit seiner Energie und seiner Kunst, der seine drei Kommilitonen nur schwer folgen können. Schüchtern schauen sie zur Seite, auf den Mann, der in der Eingangssequenz den Takt vorgibt, die Tanzschritte zeigt, ganz und gar aufgeht in der Interpretation des Stücks. So wie es Regisseur Gordon Kämmerer, drittes Studien-jahr im Fach Regie an der Hochschule, auf die Bühne gebracht hat. Man muss mit dessen Interpretation von Koltès nicht konform gehen. Er wird kein großer Regisseur werden. Es ist der verzweifelte Versuch, aus einem Nichtmal-Klassiker eine zeitgemäße Revue des absurden Theaters zu machen, ohne dass die Vorlage absurdes Theater ist. Das kann nicht nur schief gehen, das geht schief, aber ficht Thommes in keiner Szene an. Er spielt. Gibt Gas. Hält die Inszenierung am Laufen. Bringt sie voran, wenn die anderen Protagonisten noch auf der Stelle trampeln, als ginge es darum, die vermeintliche Absurdität des Gesagten zu erklären.
Die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch ist die Kaderschmiede für den schauspielernden Nachwuchs in Deutschland. Die Liste der Alumni der Hochschule liest sich wie die Bestbesetzung einer Inga-Lindström-Verfilmung. Sonntagsabends. Im ZDF. Das Gegenprogramm läuft blutrünstig in der ARD. Die Hochschule wirbt ungelenk damit, dass sie die Tatort-Kommissare für die Republik ausbildet: Jan-Josef Liefers als Tatort-Rechtsmediziner Boerne in Münster besuchte die Hochschule, Simone Thomalla als Kommissarin Saalfeld in Leipzig oder Felix Klare als Kommissar Bootz in Stuttgart waren ebenfalls Absolventen. Deutschlands beste Ermittler, die jeden Fall in 90 Minuten aufklären, kommen von der Ernst Busch in Berlin. Damit ist der Karriereweg für Max Thommes vorgezeichnet: erster Tatort-Kommissar in Luxemburg. Das Verbrechen hat keine Chance mehr im Großherzogtum. Aber Thommes schaut keinen Tatort, kann den Hype um den sonntäglichen Krimi nicht nachvollziehen, hat um diese Uhrzeit etwas anderes vor, wenn nicht sogar etwas besseres. Doch käme das Fernsehkommissar-Angebot, dann würde er als erstes den Bommeleeër-Fall aufklären. „Ich kriege das hin“, sagt er. Mit einem verschmitzten Lächeln. Mit der Weisheit der Jugend, die weiß, wo das Unrecht liegt und Untaten geschehen.
Man nimmt es ihm ab. Den Aufklärer gibt er, den alten Horn, der sich im Stück von Koltès anbiedert an das Leben, die Gesellschaft, den Freund und die Frau. Thommes spielt diese Schmierigkeit. Er ist ein Gegenentwurf zu Thierry van Werveke. Er hat nicht dessen Verschlagenheit einer abgrundtiefen Seele. Noch nicht. Thommes ist d’Artagnan, nicht Hamlet. Noch nicht. Das Depressive, Manische, intellektuell Verzweifelte liegt ihm nicht. Es ist nicht sein Naturell. Richtig: noch nicht. Denn Thommes ist jung, steht am Anfang seiner Karriere. Und ist Absolvent der Ernst Busch.
Diese hat auch eine junge, frische Generation an Schauspielerinnen und Schauspielern hervorgebracht, die im jungen deutschen Kino reüssieren. Nina Hoss zum Beispiel. Aber auch Lars Eidinger und Devid Striesow – okay, Letzterer taumelt als Kommissar Stellbrink durch die Saarbrücker Tatort-Welt des Verbrechens. Aber alle drei sind in großen Kinoproduktionen zu sehen. Hoss sogar mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet. Dort liegt die Messlatte. Die Augen von Max Thommes beginnen zu leuchten, da zeigt sich der Ehrgeiz oder das Ziel, wo der Jungschauspieler hin will, auch wenn er sich ganz staatsmännisch alle Türen, Bühnen und Vorhänge offenhalten will. „Theater oder Film. Film oder Theater. Ich mache beides.“ Das nimmt man ihm ab. Auch, dass er beides gut macht und beides gerne macht. Mit Herzblut, das er verströmt. Auch damit drückt er die übrigen Schauspieler an die Wand. Sie sind rechtzeitig auf der Premierenfeier. Lassen sich feiern, bekommen rosafarbene Tulpen überreicht, werden geherzt und gedrückt. Thommes kommt später, bleibt am Rand des Raums. Auf Tulpen verzichtet er. Er weiß auch ohne blühendes Beiwerk um seine Rolle. Sein großes Vorbild, das sei Kevin Spacey, sagt er. In dem US-amerikanischen Schauspieler hat er sein Alter Ego gefunden. Und man kann erahnen, wohin seine Reise geht. „Aber“, und das weiß Thommes sehr genau,„es kommt, wie es kommt.“