Als Frank Feitler vor zehn Jahren das Große Thea-ter am Rond-Point Schumann nach einer mehr als vierjährigen Sanierung mit Francesco Cavallis La Calisto wiedereröffnete, begab sich der ehemalige Dramaturg, Regisseur und Nachfolger des im Jahr 2000 verstorbenen Theaterdirektors Jeannot Comes abseits der gespurten Pfade. Diesen Weg hat Feitler bis heute nicht verlassen. Mit seiner ganz eigenen, diskreten Art hat es der Theaterintendant im Laufe des letzten Jahrzehnts verstanden, das Grand Théâtre, das seit 2011 mit dem Kapuzinertheater in einer gemeinsamen Struktur geführt wird, zu öffnen und mit einer geschickten Dosierung aus Alt und Neu, Gastspiel und Koproduktion ein Publikum zu gewinnen, das nicht weniger heterogen ist als die Stadt Luxemburg selbst. Dem bestehenden Stammpublikum machte er ein Repertoire schmackhaft, das alles andere als alltäglich ist. So war es nicht ungewöhnlich, dass bei der West Side Story-Premiere am Mittwoch letzter Woche, dem eigentlichen Festakt zur 50-Jahr-Feier des Bestehens des Neien Theater, mindestens soviel von Feitler gesprochen wurde wie vom Bourbonnais-Bau selbst.
Natürlich wurde auch darüber gerätselt, wieso zum Teufel dieser Feitler das Théâtre du Millénaire, wie das 1964 erstmals bespielte Haus auch genannt wurde, unbedingt mit Bernsteins West Side Story feiern musste. Das hat die Leute genauso verwundert wie damals, 2003, als er zur Wiedereröffnung des Grand Théâtre eine venezianische Oper von 1651 in Brüssel einkaufte. Vielleicht hätte man sich einen kreativeren Abend vorstellen können. Die Wahl des Stücks aber passt zu Frank Feitler wie die Faust aufs Auge. Der Direktor wollte nichts Akademisches oder Elitäres, sondern ein Fest für alle. Theater, Oper, Tanz – alles in einem, und eben auch das, was Leonard Bernstein vorschwebte, als er mit der in die New Yorker Upper West Side transponierten Romeo-und-Julia-Fantasie ein Musiktheaterwerk schuf, das bis heute zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts gehört.
Den Weg nach Luxemburg hat für dreizehn Vorstellungen die Neuauflage der originalen Choreografie von Jerome Robbins geschafft, die seit 2012 an den großen internationalen Spielstätten gefeiert wird. Robbins ist zwar seit mehr als fünfzehn Jahren tot, der amerikanische Regisseur und Choreograph Joey McKneely aber hat die Inszenierung von 1957 aufgegriffen und das Original akribisch genau überarbeitet, wobei vor allem Requisiten und Kostüme entschlackt wurden. Entstanden ist eine Produktion, die sich mit ihren schlichten Bühnenbildern – den stilisierten Hochhäusern, den groß dimensionierten Schwarzweißbildern von Manhattan und der faszinierenden Lichtregie von Peter Halbsgut – nicht aufdrängt, sondern das in den Mittelpunkt stellt, was den Erfolg des Originals ausgemacht hat: die pulsierende Musik von Leonard Bernstein, die emotionsgeladene Sprache von Stephen Sondheim und das berauschende Tanztheater von Jerome Robbins. So entsteht trotz des Alters der Produktion ein Hauch von Frische und Authentizität. Vor allem aber ist dieses Fest zum Fünfzigsten ein mitreißend kurzweiliger Theaterabend, bei dem sowohl die brillant tanzende Crew junger Darsteller, die sensiblen Protagonisten und das präzise nuancierende Orchester unter der Leitung von Donald Chan überzeugen.
Das stilistische Spektrum des Grand Theatre ist gewaltig. Vor vier Wochen feierte Catherine Kontz die Uraufführung ihrer japanisch angehauchten Oper Neige. Ende des Monats räumt das Broadway-Musical die Bühne für das australische Tanzkollektiv Circa, das gemeinsam mit dem Quatuor Debussy eine ungewöhnliche internationale Koproduktion Yaron Lifschitz vorstellt. Dass in diesem Haus sowohl Platz für zeitgenössisches Musiktheater wie für klassische Oper, innovatives Sprech- und Tanztheater und eben auch Musical ist, zeigt die Größe des Neien Theater.