In der Brasserie Neumünster stinkt es nach Abfluss. Samstag Morgen 10 Uhr, Iwona Jera sitzt schon am Tisch, trägt ihre ewige Sonnenbrille und eine Strickmütze. Sie ist die einzige Kundin um diese Zeit, entschuldigt sich, dass sie schon einen Kaffee hat, aber die Bedienung wollte es nicht anders. Sie freut sich über das Gespräch, dass man sich für sie interessiert. Dabei kann man nicht anders, als ihr zuzuhören, zuzuschauen, wie sie wissbegierig die Welt wahrnimmt, Details, die wir längst übersehen, aufnimmt wie ein Schwamm, von Projekt zu Projekt durchs Leben zieht, ohne einen größeren Plan zu haben.
Es war am 31. Dezember 1984, sogar die Uhrzeit weiß sie noch genau: 14.30 Uhr, da stand die gebürtige Polin mit ihrer Tochter zuerst auf deutschem Boden. Polen war ihr zu gefährlich geworden. Erste Station Berlin, dann Hannover, „mir kam da alles so bunt vor!“ Trotz ihres Theater- und Mathestudiums arbeitet sie zuerst als Industriekauffrau, fängt später in Aachen wieder an zu singen, lernt den Beruf der Regisseurin und Kostümbildnerin von der Pieke auf, durch jahrelanges Zuschauen und Rumjobben, in der Logistik, als Regieassistentin, als Inspizientin, manchmal auch als Kellnerin und Bargestalterin. „Das ist ja auch nichts anderes als eine Bühne...“ Seit 2007 arbeitet sie als freischaffende Regisseurin und inszeniert am Theater Erlangen, am Staatstheater Nürnberg, an den Wuppertaler Bühnen oder am Teatr Nowy Krakau. Seit einem Jahr lebt sie in Berlin, von wo aus sie mit Schauspieler und Regisseur Martin Engler im Auto nach Luxemburg kam, ein Auto „so voll mit Instrumenten und einem so riesigen Verstärker, den wir brauchen, dass ich meine Taschen mit Kostümen in Berlin lassen musste“.
„Luxemburg habe ich total positiv erlebt“, erinnert sie sich. „Das war ein großes Abenteuer, wir mussten viel improvisieren.“ Das war im Spätsommer 2012, bei den intensiven Proben zu Martin Englers Terror Terrestris, ein Stück über ein Jahrhundert Krieg und Zerstörung, bei dem sie die Kostüme und Ausstattung schuf. „Martin hatte mich gefragt, ob ich ihn bei der Gestaltung unterstützen möchte, ich habe gleich begeistert ‚Jaaaa!’ geschrien. Er ist für mich ein künstlerisch extrem wichtiger Mensch“. Damals saß sie immer da, an ihrem Tisch, und sammelte Ideen und Eindrücke, führte ein Bildertagebuch, klebte Zeichnungen, Texte und Papierfetzen aneinander... „Ich war da mehr im Hintergrund und habe Sachen entwickelt, aber es gibt auch Stücke, da ist es wichtig, dass man zu verstehen gibt: ‚Achtung, die Kostüme kommen!’“ lächelt sie. Wie in Krakau, wo sie 2012 Marc Beckers Stück Wir im Finale inszenierte. „Das Theater da ist ein Traditionshaus, ich wusste gleich, dass ich den Fundus ausräumen möchte.“ Zu diesem Stück zur Fußballmeisterschaft hat sie Adidas-Streifen auf alte Kostüme genäht. „Die Leute lachen sehr viel dabei. In Polen sagen sie, ich mache deutsches Theater, und in Deutschland sagen sie, ich mache polnisches...!“ Iwona lacht. Iwona lacht oft, so verschmitzt.
Zwei Jahre nach Terror Terrestris ist sie also wieder in Luxemburg, wieder mit Martin Engler, aber diesmal als Regisseurin. „Und ich werde auch auf der Bühne stehen, vielleicht um zu singen, vielleicht spiele ich auch bloß eine Blume...“ Seit Mitte Januar proben Iwona Jera, Martin Engler und Josiane Peiffer Eine Sommernacht, eine durchgedrehte Liebeskomödie von David Greig und Gordon McIntyre, seit Anfang dieser Woche sind die Musiker Ralph Hufenus und Matthias Trippner mit dabei, die Proben gehen bis spät in die Nacht. Das Stück ist der dritte Teil der Liebestrilogie, die Martin Engler und Josiane Peiffer 2010 in der Kulturfabrik mit Nico Helmingers Pegel der Gerechtigkeit begonnen und im Frühling 2012 mit Harold Pinters Liebhaber in Niederanven weitergeführt haben. Die Idee der Zusammenarbeit kam damals von Natalie Ortner, die die Stücke auch inszenierte, aber diese Jahr nicht dabei sein kann. Drum sprang Iwona Jera spontan ein.
„Theater in Polen ist so stark geworden in den letzten Jahren, man zeigt nur mehr sehr politische und sozialkritische Stücke“, stellt die Regisseurin fest. Und findet es schon fast erholsam, ein Beziehungsstück zu machen: „Eine Sommernacht ist eine poetische Liebesballade zwischen zwei ungleichen Menschen, sehr schöne Figuren, die sich zufällig in einer Bar treffen. Sie wehren sich bis zum Schluss gegen die Liebe. Es passiert sehr viel, das Stück ist sehr schlau geschrieben, mit Liedern die wir alle live aufführen werden.“ Helena, die erfolgreiche Scheidungsanwältin und Bob, der Kleinkriminelle, treffen an jenem Abend rein zufällig in einer Bar aufeinander, „...und es hört nicht auf zu regnen“ steht im Text. Alleine diese Anweisung bringt Iwona Jera ins Schwärmen, über ihren Freund, den Regisseur Armin Petras und dessen Inszenierung des Prinzen von Homburg, in der es bis auf eine Szene ununterbrochen regnete.
„Es geht mir immer um drei Sachen in meiner Arbeit: Musik, Bewegung und Bilder,“ erklärt Iwona Jera. Am besten ist ihr das möglicherweise 2011 gelungen, als sie unter der künstlerischen Leitung von Armin Petras Krakau-Berlin-XPRS inszenierte, eine zwölfstündige Zugfahrt zwischen Krakau und Berlin, auf der sie 50 künstlerische Stationen im Zug und in den Bahnhöfen erfand. Diesmal wird die Reise kürzer werden, zwischen dem Probenraum im Grand Théâtre, der Premiere am Escher Theater, den drei Vorstellungen in Niederanven und der letzten Aufführung Mitte Februar im Kapuzinertheater. „Diese drei Häuser sind ganz verschieden, stellt Iwona Jera fest, da kann man das Stück nicht mit Kraft etablieren, es wird jedes Mal anders werden...“ So arbeitet sie eher mit Atmosphären als mit einem sperrigen Bühnenbild: es ist Nacht, in einer Bar. Und es regnet draußen.
Iwona Jera geht behutsam mit der deutschen Sprache um, die immer noch eine Fremdsprache zu sein scheint, wählt die Wort vorsichtig aus, behält noch immer ihren polnischen Akzent. Sie beobachtet sehr genau, fühlt, wie sie auffällt, wenn sie in die Luxusläden der Oberstadt geht, um sich anzusehen, was die Leute hier so tragen: „Die schauen mich an als sei ich eine Zigeunerin“. In ihrer Tasche trägt sie alles mögliche mit sich herum, unter anderem ihre voll gekritzelten Notizhefte, in denen sie Ideen sammelt, Bilder, Textfetzen, Adressen schöner Bastelläden. Alles halt, was man so braucht, um Bilder, Bewegung und Musik zu einem Theatererlebnis werden zu lassen. „Im Theater“, sagt sie, „schafft man alles!“ Und lacht.